
by Günter de Bruyn
Die Beschreibung eines Stücks der märkischen Landschaft in seiner biedermeierlichen Banalität, obwohl gelegentlich minutiöse Ausführlichkeit nicht scheuend, hält das Interesse des Lesers bis zum Ende. Konkret und deutlich im Detail, schafft de Bruyn wiederholt Distanz, indem er mit dem Leser ins Gespräch tritt. So gleich am Anfang des Romans: “Bevor Viktor selbst den Lesern vorgestellt wird, hören sie über ihn reden.” Oder: “Dies ist ein Radau-Kapitel. Alles, was in ihm geschieht, muß der Leser sich von Lärm überdeckt vorstellen (S.1G9). Am wichtigsten ist aber der ironische Grundton. Keine metaphorische Verpackung kritischer Absicht, kein forciertes Verhüllen der Aussage, sondern die Schwebe offensichtlicher Ironie. Schon im mehrdeutigen Romantitel sind die verschiedenen Bedeutungsebenen enthalten. Er bezieht sich zunächst auf die weithin sichtbare Inschrift in gelben Ziegeln auf dem Dach des 1895 erbauten Hofes eines Neureichen, der jetzt als Ferienheim eines Ministeriums dient, d.h. der “neuen Herrlichkeit” einer privilegierten Schicht. In diesem abgelegenen Heim soll Viktor Kösling, Sohn eines hohen Funktionärs, an seiner Dissertation über “Die Außenpolitik der preußischen Regierung während der französischen Revolution” arbeiten. Aus der marxistisch-leninistischen Aufarbeitung der preußischen Geschichte wird jedoch nichts. Keineswegs von Ehrgeiz geplagt, sondern gewohnt, andere (besonders seine Eltern) für sich entscheiden zu lassen und ansonsten stets bestrebt, allen zu gefallen, gerät dieser “Anti-Held” in die “Familie” des Heimpersonals, deren Mitglieder von der alten Frau Lüderitz über die an Seelenwanderung glaubende Witwe des antifaschistischen Helden, nach dem das Heim heute benannt ist, zu dem Aussteiger Sebastian mit ebenso viel Einfühlungsvermögen wie ironischer Distanz beschrieben werden. Statt sich seiner Dissertation zu widmen, stellt Viktor der Bediensteten Thilde nach. Es kommt bis zur Verlobung. Die Eltern greifen ein, um die Mesalliance mit dem “Mädchen vom Volke”, deren Mutter obendrein im besten wohnt, zu verhindern, wäre diese Heirat doch der Karriere des Sohnes im diplomatischen Dienst gänzlich abträglich. In der eingeschneiten “Zauberberg”-Atmosphäre erlebt Viktor, “der erfolgreich auf Liebe zur Ordnung gedrillt ist”, ein “Freiheitsgefühl” (S. 41), eine Erleichterung: “Ihm ist klar geworden, daS anderes wichtiger fur ihn ist ” (S. 99). Diese Art “neuer Herrlichkeit”, die der Aussteiger Sebastian hier für sich gefunden hat, bleibt allerdings Episode in der Diplomatenkarriere des sehr fraglichen ” Siegers ” Viktor. Als rhetorische Figur der Ironie schließlich provo- ziert “neue Herrlichkeit” die gegensätzliche Bedeutung: hier die Misere im Kleinen, gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, mangelhafte gesellschaftliche Einrichtungen (beeindruckendstes Beispiel sind die unmenschlichen Altersheime), und möglicherweise die Misere im Großen, besonders, was die hierarchische Gesellschaftsstruktur im realen Sozialismus betrifft. Ob der Roman als Ganzes in diesem Sinne als gesellschaftskritische Satire aufzufassen ist , hängt wohl davon ab, wie man Satire definiert. Der Reiz des Buches liegt in besonderem Maße in der genauen Zeichnung der Charaktere, der Beschreibung ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt, auch im fast novellistisch strengen Aufbau. Dabei entsteht das Bild einer widerspruchsvollen Wirklichkeit. Der Spiegel verzerrt diese Realität kaum, er zeigt sie. So manche Gebrechlichkeiten der Menschen und ihrer Institutionen, die der Roman offenbart, sind dabei keineswegs nur in der DDR zu finden.
Facts:
English title: N/A
Original title: Neue Herrlichkeit
Published: 1986
