by Golo Mann
Der Diogenes Verlag hat das ungekürzte Buch “Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts” von Achim Höppner (die Synchronstimme Clint Eastwoods) einlesen lassen und es in acht Hörbücher aufgespalten, die jeweils einen wichtigen Abschnitt in der deutschen Geschichte repräsentieren.
Hier einige Zitate des siebenten Hörbuches “Weimar (1918 – 1933)”
…
Unter zwei Grundgesetzen sollten fortan die Deutschen stehen. Der Vertrag von Versailles regelte ihre Beziehungen zu den bisherigen Feinden, zur Außenwelt. Die Weimarer Verfassung gab dem inneren Kämpfen und Trachten neue Form. Der Friedensvertrag war ein Unglück;
…
Wilson vertrat das naive, junge, kraftgeschwellte Amerika, für das der Krieg nur ein Spaß gewesen war. Clémenceau vertrat das ausgeblutete, todtraurige Frankreich. Ihm die Machtposition zu erhalten, die es durch so entsetzliche Opfer erworben hatte, aber auf die Dauer, ohne die Hilfe seines Bundesgenossen, unmöglich würde halten können, durch hundert ausgeklügelte böse Tricks sie ihm möglichst lang zu sichern, war der all und eine Gedanke des alten Mannes, der 1918 nicht und nicht einmal 1871 vergessen konnte; denn er war schon damals dabei gewesen.
Das Produkt dieser sich streitenden Willensmeinungen war widerwärtig; ein dichtmaschiges Netz von Bestimmungen, das »gerecht« sein sollte und es in vielen Einzelheiten unbestreitbar war, das Ungerechte, von Bosheit, Haß und Übermut Inspirierte aber einließ, wo es nur unter irgendeinem Vorwand geschehen konnte, und zwar in dem Maße, daß das Ganze, aller einzelnen Gerechtigkeit ungeachtet, dann doch als ein ungeheueres Instrument zur Unterdrückung, Ausräuberung und dauernden Beleidigung Deutschlands erschien. Es sollte alles Unrecht wiedergutgemacht werden, das Preußen Deutschland sich seit 150 Jahren hatte zuschulden kommen lassen, die polnische Teilung von 1772 – der neue polnische Staat erhielt Posen und Westpreußen; so daß Ostpreußen, wie in der alten Zeit, vom deutschen Hauptkörper getrennt wurde; die Annexion Schleswig-Holsteins – in Nordschleswig sollte eine Volksabstimmung stattfinden und zu Dänemark kommen, wer da wollte; Elsaß-Lothringen natürlich; kleinerer, ungeschickter Grenzberichtigungen nicht zu gedenken. Volksabstimmungen sollten stattfinden, wo immer sich vielleicht eine Mehrheit fand, die bei Deutschland nicht bleiben wollte; in Oberschlesien, in Teilen Ostpreußens. In Ländern dagegen, welche nicht zu Deutschland gehörten und deren Einwohner sich jetzt in ihrer Mehrzahl wahrscheinlich Deutschland anzuschließen wünschten, in Österreich, in Nordböhmen, durften keine Volksabstimmungen stattfinden. Der neue Rechtsbegriff – daß die Völker selber über sich bestimmen sollten – wurde eingesetzt, wo er Deutschland schaden konnte, anders nicht; so, wie Deutschland ihn zu Brest-Litovsk gegen die Russen eingesetzt hatte.
…
Der Friedensvertrag belästigte Deutschland auf doppelte Weise. Er schuf ein schiefes, verkrampftes Verhältnis zwischen ihm und der Welt, seinen Nachbarn im Westen und Osten; er zerteilte das Volk, indem eine Gruppe von Politikern samt ihrer Gefolgschaft sich rasch die Verantwortung für alles Unheil heimtückisch aufgebürdet sah. Dagegen wehrten sie sich wohl, aber schwach, weder mit Erfolg noch mit glücklichem Talent.
Das zweite Grunddokument, unter dem Deutschland nun leben sollte, war kein Diktat, sondern von deutschen Händen frei entworfen, die Weimarer Verfassung. Sie war auf dem Papier so schön, wie der Vertrag auf dem Papier schlecht war. Verfassungen aber wie Friedensverträge werden erst im wirklichen Leben, was sie sind. Der papierene Text des Anfanges wird das Spätere beeinflussen, ohne es vollkommen zu bestimmen.
…
Mit dem Übel der Reparationen hing die Geldentwertung zusammen. Das fremde Geld, das die Regierung dem Gegner zahlte, mußte sie kaufen mit eigenem; welches so in immer größeren Mengen auf den Markt geworfen wurde und immer tiefer im Kurs sank. Längst, schon während des Krieges, hatte das Reich sich daran gewöhnt, seine Ausgaben durch die Notenpresse anstatt durch Steuern zu begleichen; diese Kunst wurde nun zum toller und toller betriebenen Laster.
…
Diese »Inflation«, man muß es heute aussprechen, war auch ein Instrument der großen Industrie, sich die Herrschaft wiederzugewinnen, die sie seit 1918 für kurze Zeit verloren hatte.
…
Dem Höhepunkt der großen, häßlichen und lächerlichen Unordnung folgte dergestalt sofort das Ende.
Die alte Währung wurde kassiert und eine neue eingeführt, welche der Vorkriegswährung entsprach; für 1000 Milliarden Reichsmark konnte man eine »Rentenmark«, demnächst eine Goldmark, eintauschen. Eine Aufgabe für Finanztechniker, jederzeit zu bewältigen, wenn Regenten von Autorität und eindeutigem Willen den Auftrag dazu gaben. Im ersten Drittel des Jahrhunderts war das noch nicht so klar, wie es heute ist; weshalb man die Schöpfer des guten Geldes, zumal den neuen Reichsbankpräsidenten Schacht, wie erfolgreiche Zauberer bewunderte. Es waren nichts als ein paar klassische Maßregeln, welche diese Männer ergriffen und welche, wenn man nur gewollt hätte, ebensogut ein paar Jahre früher hätten ergriffen werden können; strengste Kontrolle der Banknotenpresse, Sparmaßnahmen aller Art, Neuregelung des Steuer- und Zollwesens. Die Nation war immer arbeitswillig gewesen, sie war nur schlecht regiert worden.
…
Stresemannjahre, 1924 bis 1929. Jahre der wirtschaftlichen Produktivität, der kulturellen Blüte. Jahre, wie es schien, der Festigung, selbst im inneren Gemeinwesen. Oder war es nicht ein Zeichen republikanischer Festigung, daß die Morde, die Putsche jetzt aufhörten? Daß selbst die Konservativen – die »Deutschnationalen« – jetzt mehrfach in den Regierungen des Reiches saßen, während die Parteien der extremen Rechten und Linken nicht mehr vorwärtskamen? Daß Bayern, bis 1924 der Hort der Gegenrevolution, sich allmählich in die neuen Verhältnisse fand und eine vernünftige Stetigkeit entwickelte? Daß Sozialisten und Liberale, Unternehmer und Gewerkschaftsführer, sich zu friedlichen Verhandlungen trafen? Hätte das nicht ruhig so weitergehen können, wenn nicht-ja, wenn nicht. Die erste neue Republik ist an der Wirtschaftskrise von 1930 gescheitert, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daß ohne diese sie auch gescheitert wäre.
…
Deutschland, hatte Max Weber 1918 geschrieben, müßte von vorn anfangen wie nach dem Dreißigjährigen Krieg, nur daß heutzutage alles viel schneller ginge. Das tat es. Wenn das Einkommen der Nation gleich nach dem Krieg auf etwa die Hälfte des Vorkriegsstandes gesunken war, so hatte es zehn Jahre später die alte Höhe wieder erreicht, ja übertreffen. Das während des Krieges Heruntergewirtschaftete und Verrottete, das nach dem Krieg Ausgelieferte, es war alles wieder da: die modernste Handelsflotte, die schnellsten Eisenbahnen, ein angemessenes Straßensystem. Der Staat tat in seiner obersten politischen Sphäre so, als ob er von einer Krise zur andern taumelte, und davon kündeten die Balkenüberschriften der Zeitungen. Aber die Verwaltung war gut, die Arbeiter waren gut, die Erfinder, die Ingenieure, die Techniker waren gut. Die industrielle Planung war großartig und wirksam.
…
Anders geartet war der geistige Irrblock, den, noch im letzten Kriegsjahr, ein Einzelgänger in den stagnierenden Strom deutschen Geschichtsdenkens warf, wo er nun lag und die Wasser teilte. Wir meinen Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« und die späteren Nebenwerke des starken, wunderlichen Mannes. Der »Untergang« gehört zur Weimarer Epoche so gut wie der »Zauberberg« und noch mehr, weil er gleich am Anfang erschien und gleich am Anfang den republikanischen Versuch mit eindrucksvollen Argumenten verneinte. Wenn Spengler recht hatte, dann hatten die Demokraten nicht recht, dann standen uns ganz andere Dinge bevor als Parlamentsregierung, bürgerliche Freiheit und ewiger Friede. Spengler war so deutsch wie Thomas Mann, aber auf ganz andere Weise. Er gehörte nicht zur Gattung der Suchenden, Zarten und Scheuen. Er wußte Bescheid ein für allemal, so wie vor ihm Karl Marx Bescheid gewußt hatte. Mit furchtbarem Ehrgeiz, mit gewaltiger Schriftstellerwillenskraft unternahm er, sich ein Alleswissen und mit ihm das Publikum zu erobern. »In diesem Buch«, fing er an, »wird zum erstenmal der Versuch gemacht, Geschichte vorauszubestimmen.«
…
Sein Grundgedanke läßt sich in wenigen Sätzen ausdrücken. Kulturen, behauptete er, entstehen und vergehen wie organische Wesen. Was anderen Kulturen schon geschehen war, das stand nun der europäisch-amerikanischen bevor, der Tod. Vorher waren jedoch noch einige interessante Dinge zu erwarten. Jede Kultur ging, wenn sie dem Ende nahe kam, durch die Phase der »Zivilisation«: Technisierung, Zusammenballung der Massen in riesigen Städten, Herrschaft des Geldes. Dem entsprach im Politischen die Demokratie: eine pfiffige Erfindung der Kapitalisten, um ihre Herrschaft zu verlarven, die Massen je nach Bedarf aufzupeitschen oder zu zähmen. Da hörte man dann das Gerede von Gleichheit und Freiheit, von der Humanität, vom ewigen Frieden und anderen solchen hohlen Idealen; während gleichzeitig die höheren Leistungen der Kultur, Kunst, Musik, Dichtung, Philosophie, religiöser Glaube ganz unvermeidlich zum Teufel gingen. »Religiös ist das Abendland fertig.« Das war aber, nach Spengler, das Ende noch nicht. Gegen die Demokraten und Plutokraten erhob sich eine neue Rasse: die echten, harten Kapitäne von Wirtschaft, Armee und Staat, die Cäsaren der Zukunft. Ihnen ging es nicht um Reichtum und Genuß, sondern um Gestaltung der Macht zu hohen, gnadenlosen Zwecken. Da würden dann Diktatoren erscheinen, von denen Napoleon und Bismarck und Ludendorff nur einen schwachen Vorgeschmack gaben. Da würde es dann Kriege geben, die den eben beendeten zum Kinderspiel machten; die Humanitätsphrasendrescher, die schöngeistigen Schwächlinge würden in diesem Sturm versinken, und das sei kein Schade. Blut würde aufstehen gegen Gold, und das Blut würde siegen. Und dann? Dann sei allerdings das Ende erreicht. Nach den Großkriegen und Siegen und geistlosen, aber vornehmen, stählernen, harten Reichen der Diktatoren komme nichts mehr. Die Europäer würden dann in das Dasein geschichtsloser Fellachen zurücksinken und Berlin und London so aussehen wie Ninive.
…
Daß es mit der guten Wirtschaftskonjunktur zur Neige ging, dafür fehlte es schon 1928 nicht an Anzeichen. Das ausländische Kapital machte sich rar. Die Zahl der Erwerbslosen wuchs, mit ihr die finanzielle Last der Erwerbslosenversicherung; Steuereingänge schrumpften. In der Eisen- und Stahlindustrie kam es zu Aussperrungen, zu Lohnkämpfen, die nach langen schwierigen Verhandlungen durch staatlichen Schiedsspruch noch einmal geschlichtet werden konnten. Die Unternehmer begannen nun, gegen das ganze System der »politischen Löhne«, der Schiedsgerichtsbarkeit, der kollektiven, staatlich geschützten Tarifverträge im Ernst vorzugehen: das sei alles schuld am beginnenden Niedergang und wirtschaftlich nicht zu verantworten.
…
später erlebte die New Yorker Finanzwelt einen Zusammenbruch der Börsenwerte, wie er seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht erhört worden war. Es war das schlimme Ende der weltwirtschaftlichen Konjunktur, der Beginn einer Krise, die nun nacheinander alle nicht in völliger Isolierung lebenden Staaten in ihren Strudel riß. Von ihnen war Deutschland das krisenanfälligste. Indem nun die Märkte schrumpften, die kurzfristigen Kredite zurückgezogen und neue nicht mehr gefunden wurden, schwand der deutschen Prosperität die Grundlage; seine überkonzentrierte, überrationalisierte Industrie wußte nicht mehr, wohin sich wenden.
…
Brüning war kein Feind irgendeiner Klasse, am wenigsten der Arbeiter; für die christlichen Gewerkschaften war er selber tätig gewesen. Aber er war der strenge, asketische Freund wissenschaftlicher Ökonomie. Es mußte alles wieder in Ordnung kommen, der Haushalt ins Gleichgewicht gebracht, die Finanzen von Reich, Ländern, Gemeinden saniert werden. Ging das nicht ohne Herabsetzungen der Sozialleistungen, dann mußten sie herabgesetzt werden, die Steuern erhöht, die Einfuhr gedrosselt. Die Löhne würden folgen, dann auch die Preise. Hatte die »Deflation« alles falsche, üppig wuchernde Unkraut weggebrannt, so würden die Nutzpflanzen ungehindert gedeihen… Das war logisch gedacht und auch herkömmlich; unter Theoretikern und Praktikern der Wirtschaft stimmte die große Mehrzahl dem tugendhaften, zarten und eisernen Regierungschef zu. Von jenen, die anders zu denken gelernt hatten, von John Maynard Keynes zum Beispiel, hatte Brüning kaum etwas gehört. Gab es nicht Grenzen auch für das dem geduldigsten Volk Zumutbare? Würde das lebendige Fleisch nicht einmal gegen die an ihm vollzogene, qualvolle, nie endende Operation rebellieren? Er fragte es nicht, solange nur die Operation wissenschaftlich korrekt war.
Dr. Brüning brachte sein erstes Bündel von Reformgesetzen mit Hilfe der Konservativen im Reichstag durch. Das zweite nicht mehr. Nun wurde es, unter Artikel 48, als »Notverordnung« des Präsidenten eingeführt. Der Reichstag erklärte die Verordnung für null und nichtig. Darauf lösten Präsident und Kanzler den Reichstag auf. Man wußte aber nur zu gut, daß der nun folgende Wahlkampf ein ungewöhnlicher sein würde.
…
Seit Jahren trieb eine politische Partei im Lande um, die alt war, aber dank der Umstände jetzt neu wurde und mit einer in der Geschichte der modernen Demokratie beispiellosen Virulenz unter den Menschen sich ausbreitete. Es waren die »Nationalsozialisten«.
…
Und nun war es der Vorteil der Nazipartei, daß sie mit dem, was seit 1919 in Deutschland geschehen war, überhaupt nichts zu tun hatte. Alle anderen bürgerlichen Parteien hatten das; selbst die Konservativen, Deutschnationalen hatten doch manchmal mitregiert, mitgestimmt, sich mitkompromittiert. Nicht so die Nazis. Die hatten zehn Jahre lang angeklagt, gehaßt, verhöhnt, verflucht, nichts weiter. Sie konnten angreifen, ohne sich selber mit einem einzigen Wort verteidigen zu müssen. Wo war nun, was die anderen Parteien, rechte wie linke, zehn Jahre lang versprochen hatten? Wo die soziale Republik, der gebrochene Kapitalismus der Linken? Wo die blühende Industrie und Landwirtschaft der Rechten? An ihren Früchten sollte man das »System« erkennen, und zum System gehörten alle, die sich nicht zum Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bekannten. Er allein hatte gewarnt, er allein das, was nun war, vorausgesagt und die Gründe durchleuchtet: das Verbrechen vom November 1918, den internationalen Marxismus und sein Bündnis mit dem internationalen Großkapital, die korrupte Parteienwirtschaft, den Wahnwitz der Reparationen, die diabolischen Absichten des Judentums. »Volk reiße die Augen auf, erkenne den Betrug!… Schlagt die Verräter! Jagt die Bankrotteure zum Teufel!«… das war wirksam.
…
Alle großen Parteien hatten nachgerade ihre Schutz- und Kampfverbände; die Kommunisten ihre »Roten Frontkämpfer«, die Sozialdemokraten ihr »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«, die Deutschnationalen die ihnen verbündete Frontkämpferorganisation »Stahlhelm«. Bei weitem die militanteste Truppe aber waren die »Sturmabteilungen« – SA – der Nazipartei, eine eigentliche Bürgerkriegsarmee. Wohl war dort viel im Grunde gutmütige Jugend versammelt, junge Arbeitslose, die ihre Tage in den öffentlichen Anlagen verlungert hatten, bis die Partei sie sich holte, ihnen die braune Hemdenuniform und Essen und ihrem Leben ein wenig Stolz und Sinn gab. Der Staat, der sparsame, phantasielose, kümmerliche Staat tat das nicht, also konnte die Partei sie einfangen.
…
Hindenburg und die Reichswehr, das waren seit 1930 die Stützen jeder republikanischen Regierung, und wenn auch Hindenburg für den Charme Papens noch weiterhin nur allzu empfänglich blieb, so konnte der Kanzler nicht zuschlagen, ohne des militärischen Instruments sicher zu sein. Schleichers Votum erzwang Papens Rücktritt.
Und nun lagen die Dinge so, daß der General und Reichswehrminister, der seit 1928 einen so emsigen, aber unverantwortlichen Einfluß auf die Politik genommen, der Brüning und Papen erwählt und gestürzt hatte, aus dem Halbdunkel seines Büros hervortreten und die Bürde des Kanzlers selber übernehmen mußte. Die Demokratie Stresemanns, die Halbdemokratie Brünings, das autoritäre Husarenregime Papens, sie waren alle ruiniert. Es blieb, schien es, nur noch die Armee selber, nicht mehr als diskret wirkendes Zünglein an der Waage wie bisher, sondern als letztes und volles Gewicht in der Waagschale.
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Das ist eine der Merkwürdigkeiten dieses schlimmen Jahres; wie Deutschland, bevor es sich endlich dem großdeutschen Demagogen in die Arme warf, noch einmal eine Reihe von Regierungsformen der Vergangenheit rasch und vergebens durchprobierte. Brüning – das war die katholische konservative Demokratie und das Treueverhältnis zwischen König und Kanzler. Papen – das war ein Rückgriff auf altpreußischen Durchschnitt, verbrämt mit ein wenig »konservativer Revolution«. Schleicher wollte jetzt der demokratische Offizier sein, der über dem Klassengegensatz steht – auch dies eine Anspielung auf bewährte Vergangenheit, Scharnhorst, Gneisenau, selbst Caprivi, Bismarcks ersten Nachfolger. Er schere sich nicht um solche erstarrten Begriffe wie Kapitalismus und Sozialismus, teilte der neue Reichskanzler leichthin der gierig lauschenden Nation mit. Auch seien Verfassungsreformen jetzt nicht das Dringlichste – eine Spitze gegen Papen; und eine streng wissenschaftliche Finanzpolitik sei ja wohl ganz gut – das ging gegen Brüning -, aber was jetzt not tue, sei Arbeitsbeschaffung, Arbeitsbeschaffung und wieder Arbeitsbeschaffung. Da mußten die Leute ihm recht geben.
…
Es war Franz von Papen, der nun gegen seinen Freund Schleicher die Rolle übernahm, welche acht Monate vorher Schleicher gegen Brüning gespielt hatte. Ob aus vaterländischer Sorge oder aus Ehrgeiz und Rachsucht, darüber wollen wir seine Freunde mit seinen Kritikern streiten lassen; die Motive können hier gleichgültig sein, würden ja auch so oder so sich nicht beweisen lassen. Das Nachdenkliche der Situation ist nur immer wieder: daß ein Mensch von solchem Federgewicht einen kurzen Augenblick lang Weltgeschichte machen und entscheiden konnte.
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Die Herren trafen sich heimlich, aber ihr Treffen wurde alsbald bekannt. Sie trafen sich noch einmal und ein drittes Mal und zogen den Sohn und den Staatssekretär Hindenburgs zu ihrem Gezettel bei und erreichten langsam eine Verständigung. Sie fanden einen General des Heeres, der bereit war, in einer von Hitler geleiteten Regierung den Posten des Wehrministers zu übernehmen.
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Zwei Tage später ernannte Hindenburg den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zum Reichskanzler. »Sie irren sich, wir haben ihn engagiert«, erwiderte Papen, als man ihn auf das Gefährliche dieses Staatsaktes aufmerksam machte. Und so sah es auch auf dem Papier aus, und so verstanden es auch die allermeisten; nicht nur die Chefintriganten, auch die öffentlichen Kritiker, die linken Journalisten, die Herren von den noch immer existierenden republikanischen Parteien. Die Machtverteilung, oder doch die Amterverteilung schien in der Tat zugunsten der Konservativen innerhalb ihrer Partnerschaft mit dem Demagogen zu sprechen. Aber von all den klugen Sicherungen war nach einem halben Jahr nichts mehr übrig als letzte Schatten und Spuren, und nach wieder einem Jahr verschwanden auch die.
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Unter zwei Grundgesetzen sollten fortan die Deutschen stehen. Der Vertrag von Versailles regelte ihre Beziehungen zu den bisherigen Feinden, zur Außenwelt. Die Weimarer Verfassung gab dem inneren Kämpfen und Trachten neue Form. Der Friedensvertrag war ein Unglück;
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Wilson vertrat das naive, junge, kraftgeschwellte Amerika, für das der Krieg nur ein Spaß gewesen war. Clémenceau vertrat das ausgeblutete, todtraurige Frankreich. Ihm die Machtposition zu erhalten, die es durch so entsetzliche Opfer erworben hatte, aber auf die Dauer, ohne die Hilfe seines Bundesgenossen, unmöglich würde halten können, durch hundert ausgeklügelte böse Tricks sie ihm möglichst lang zu sichern, war der all und eine Gedanke des alten Mannes, der 1918 nicht und nicht einmal 1871 vergessen konnte; denn er war schon damals dabei gewesen.
Das Produkt dieser sich streitenden Willensmeinungen war widerwärtig; ein dichtmaschiges Netz von Bestimmungen, das »gerecht« sein sollte und es in vielen Einzelheiten unbestreitbar war, das Ungerechte, von Bosheit, Haß und Übermut Inspirierte aber einließ, wo es nur unter irgendeinem Vorwand geschehen konnte, und zwar in dem Maße, daß das Ganze, aller einzelnen Gerechtigkeit ungeachtet, dann doch als ein ungeheueres Instrument zur Unterdrückung, Ausräuberung und dauernden Beleidigung Deutschlands erschien. Es sollte alles Unrecht wiedergutgemacht werden, das Preußen Deutschland sich seit 150 Jahren hatte zuschulden kommen lassen, die polnische Teilung von 1772 – der neue polnische Staat erhielt Posen und Westpreußen; so daß Ostpreußen, wie in der alten Zeit, vom deutschen Hauptkörper getrennt wurde; die Annexion Schleswig-Holsteins – in Nordschleswig sollte eine Volksabstimmung stattfinden und zu Dänemark kommen, wer da wollte; Elsaß-Lothringen natürlich; kleinerer, ungeschickter Grenzberichtigungen nicht zu gedenken. Volksabstimmungen sollten stattfinden, wo immer sich vielleicht eine Mehrheit fand, die bei Deutschland nicht bleiben wollte; in Oberschlesien, in Teilen Ostpreußens. In Ländern dagegen, welche nicht zu Deutschland gehörten und deren Einwohner sich jetzt in ihrer Mehrzahl wahrscheinlich Deutschland anzuschließen wünschten, in Österreich, in Nordböhmen, durften keine Volksabstimmungen stattfinden. Der neue Rechtsbegriff – daß die Völker selber über sich bestimmen sollten – wurde eingesetzt, wo er Deutschland schaden konnte, anders nicht; so, wie Deutschland ihn zu Brest-Litovsk gegen die Russen eingesetzt hatte.
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Der Friedensvertrag belästigte Deutschland auf doppelte Weise. Er schuf ein schiefes, verkrampftes Verhältnis zwischen ihm und der Welt, seinen Nachbarn im Westen und Osten; er zerteilte das Volk, indem eine Gruppe von Politikern samt ihrer Gefolgschaft sich rasch die Verantwortung für alles Unheil heimtückisch aufgebürdet sah. Dagegen wehrten sie sich wohl, aber schwach, weder mit Erfolg noch mit glücklichem Talent.
Das zweite Grunddokument, unter dem Deutschland nun leben sollte, war kein Diktat, sondern von deutschen Händen frei entworfen, die Weimarer Verfassung. Sie war auf dem Papier so schön, wie der Vertrag auf dem Papier schlecht war. Verfassungen aber wie Friedensverträge werden erst im wirklichen Leben, was sie sind. Der papierene Text des Anfanges wird das Spätere beeinflussen, ohne es vollkommen zu bestimmen.
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Mit dem Übel der Reparationen hing die Geldentwertung zusammen. Das fremde Geld, das die Regierung dem Gegner zahlte, mußte sie kaufen mit eigenem; welches so in immer größeren Mengen auf den Markt geworfen wurde und immer tiefer im Kurs sank. Längst, schon während des Krieges, hatte das Reich sich daran gewöhnt, seine Ausgaben durch die Notenpresse anstatt durch Steuern zu begleichen; diese Kunst wurde nun zum toller und toller betriebenen Laster.
…
Diese »Inflation«, man muß es heute aussprechen, war auch ein Instrument der großen Industrie, sich die Herrschaft wiederzugewinnen, die sie seit 1918 für kurze Zeit verloren hatte.
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Dem Höhepunkt der großen, häßlichen und lächerlichen Unordnung folgte dergestalt sofort das Ende.
Die alte Währung wurde kassiert und eine neue eingeführt, welche der Vorkriegswährung entsprach; für 1000 Milliarden Reichsmark konnte man eine »Rentenmark«, demnächst eine Goldmark, eintauschen. Eine Aufgabe für Finanztechniker, jederzeit zu bewältigen, wenn Regenten von Autorität und eindeutigem Willen den Auftrag dazu gaben. Im ersten Drittel des Jahrhunderts war das noch nicht so klar, wie es heute ist; weshalb man die Schöpfer des guten Geldes, zumal den neuen Reichsbankpräsidenten Schacht, wie erfolgreiche Zauberer bewunderte. Es waren nichts als ein paar klassische Maßregeln, welche diese Männer ergriffen und welche, wenn man nur gewollt hätte, ebensogut ein paar Jahre früher hätten ergriffen werden können; strengste Kontrolle der Banknotenpresse, Sparmaßnahmen aller Art, Neuregelung des Steuer- und Zollwesens. Die Nation war immer arbeitswillig gewesen, sie war nur schlecht regiert worden.
…
Stresemannjahre, 1924 bis 1929. Jahre der wirtschaftlichen Produktivität, der kulturellen Blüte. Jahre, wie es schien, der Festigung, selbst im inneren Gemeinwesen. Oder war es nicht ein Zeichen republikanischer Festigung, daß die Morde, die Putsche jetzt aufhörten? Daß selbst die Konservativen – die »Deutschnationalen« – jetzt mehrfach in den Regierungen des Reiches saßen, während die Parteien der extremen Rechten und Linken nicht mehr vorwärtskamen? Daß Bayern, bis 1924 der Hort der Gegenrevolution, sich allmählich in die neuen Verhältnisse fand und eine vernünftige Stetigkeit entwickelte? Daß Sozialisten und Liberale, Unternehmer und Gewerkschaftsführer, sich zu friedlichen Verhandlungen trafen? Hätte das nicht ruhig so weitergehen können, wenn nicht-ja, wenn nicht. Die erste neue Republik ist an der Wirtschaftskrise von 1930 gescheitert, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daß ohne diese sie auch gescheitert wäre.
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Deutschland, hatte Max Weber 1918 geschrieben, müßte von vorn anfangen wie nach dem Dreißigjährigen Krieg, nur daß heutzutage alles viel schneller ginge. Das tat es. Wenn das Einkommen der Nation gleich nach dem Krieg auf etwa die Hälfte des Vorkriegsstandes gesunken war, so hatte es zehn Jahre später die alte Höhe wieder erreicht, ja übertreffen. Das während des Krieges Heruntergewirtschaftete und Verrottete, das nach dem Krieg Ausgelieferte, es war alles wieder da: die modernste Handelsflotte, die schnellsten Eisenbahnen, ein angemessenes Straßensystem. Der Staat tat in seiner obersten politischen Sphäre so, als ob er von einer Krise zur andern taumelte, und davon kündeten die Balkenüberschriften der Zeitungen. Aber die Verwaltung war gut, die Arbeiter waren gut, die Erfinder, die Ingenieure, die Techniker waren gut. Die industrielle Planung war großartig und wirksam.
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Anders geartet war der geistige Irrblock, den, noch im letzten Kriegsjahr, ein Einzelgänger in den stagnierenden Strom deutschen Geschichtsdenkens warf, wo er nun lag und die Wasser teilte. Wir meinen Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« und die späteren Nebenwerke des starken, wunderlichen Mannes. Der »Untergang« gehört zur Weimarer Epoche so gut wie der »Zauberberg« und noch mehr, weil er gleich am Anfang erschien und gleich am Anfang den republikanischen Versuch mit eindrucksvollen Argumenten verneinte. Wenn Spengler recht hatte, dann hatten die Demokraten nicht recht, dann standen uns ganz andere Dinge bevor als Parlamentsregierung, bürgerliche Freiheit und ewiger Friede. Spengler war so deutsch wie Thomas Mann, aber auf ganz andere Weise. Er gehörte nicht zur Gattung der Suchenden, Zarten und Scheuen. Er wußte Bescheid ein für allemal, so wie vor ihm Karl Marx Bescheid gewußt hatte. Mit furchtbarem Ehrgeiz, mit gewaltiger Schriftstellerwillenskraft unternahm er, sich ein Alleswissen und mit ihm das Publikum zu erobern. »In diesem Buch«, fing er an, »wird zum erstenmal der Versuch gemacht, Geschichte vorauszubestimmen.«
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Sein Grundgedanke läßt sich in wenigen Sätzen ausdrücken. Kulturen, behauptete er, entstehen und vergehen wie organische Wesen. Was anderen Kulturen schon geschehen war, das stand nun der europäisch-amerikanischen bevor, der Tod. Vorher waren jedoch noch einige interessante Dinge zu erwarten. Jede Kultur ging, wenn sie dem Ende nahe kam, durch die Phase der »Zivilisation«: Technisierung, Zusammenballung der Massen in riesigen Städten, Herrschaft des Geldes. Dem entsprach im Politischen die Demokratie: eine pfiffige Erfindung der Kapitalisten, um ihre Herrschaft zu verlarven, die Massen je nach Bedarf aufzupeitschen oder zu zähmen. Da hörte man dann das Gerede von Gleichheit und Freiheit, von der Humanität, vom ewigen Frieden und anderen solchen hohlen Idealen; während gleichzeitig die höheren Leistungen der Kultur, Kunst, Musik, Dichtung, Philosophie, religiöser Glaube ganz unvermeidlich zum Teufel gingen. »Religiös ist das Abendland fertig.« Das war aber, nach Spengler, das Ende noch nicht. Gegen die Demokraten und Plutokraten erhob sich eine neue Rasse: die echten, harten Kapitäne von Wirtschaft, Armee und Staat, die Cäsaren der Zukunft. Ihnen ging es nicht um Reichtum und Genuß, sondern um Gestaltung der Macht zu hohen, gnadenlosen Zwecken. Da würden dann Diktatoren erscheinen, von denen Napoleon und Bismarck und Ludendorff nur einen schwachen Vorgeschmack gaben. Da würde es dann Kriege geben, die den eben beendeten zum Kinderspiel machten; die Humanitätsphrasendrescher, die schöngeistigen Schwächlinge würden in diesem Sturm versinken, und das sei kein Schade. Blut würde aufstehen gegen Gold, und das Blut würde siegen. Und dann? Dann sei allerdings das Ende erreicht. Nach den Großkriegen und Siegen und geistlosen, aber vornehmen, stählernen, harten Reichen der Diktatoren komme nichts mehr. Die Europäer würden dann in das Dasein geschichtsloser Fellachen zurücksinken und Berlin und London so aussehen wie Ninive.
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Daß es mit der guten Wirtschaftskonjunktur zur Neige ging, dafür fehlte es schon 1928 nicht an Anzeichen. Das ausländische Kapital machte sich rar. Die Zahl der Erwerbslosen wuchs, mit ihr die finanzielle Last der Erwerbslosenversicherung; Steuereingänge schrumpften. In der Eisen- und Stahlindustrie kam es zu Aussperrungen, zu Lohnkämpfen, die nach langen schwierigen Verhandlungen durch staatlichen Schiedsspruch noch einmal geschlichtet werden konnten. Die Unternehmer begannen nun, gegen das ganze System der »politischen Löhne«, der Schiedsgerichtsbarkeit, der kollektiven, staatlich geschützten Tarifverträge im Ernst vorzugehen: das sei alles schuld am beginnenden Niedergang und wirtschaftlich nicht zu verantworten.
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später erlebte die New Yorker Finanzwelt einen Zusammenbruch der Börsenwerte, wie er seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht erhört worden war. Es war das schlimme Ende der weltwirtschaftlichen Konjunktur, der Beginn einer Krise, die nun nacheinander alle nicht in völliger Isolierung lebenden Staaten in ihren Strudel riß. Von ihnen war Deutschland das krisenanfälligste. Indem nun die Märkte schrumpften, die kurzfristigen Kredite zurückgezogen und neue nicht mehr gefunden wurden, schwand der deutschen Prosperität die Grundlage; seine überkonzentrierte, überrationalisierte Industrie wußte nicht mehr, wohin sich wenden.
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Brüning war kein Feind irgendeiner Klasse, am wenigsten der Arbeiter; für die christlichen Gewerkschaften war er selber tätig gewesen. Aber er war der strenge, asketische Freund wissenschaftlicher Ökonomie. Es mußte alles wieder in Ordnung kommen, der Haushalt ins Gleichgewicht gebracht, die Finanzen von Reich, Ländern, Gemeinden saniert werden. Ging das nicht ohne Herabsetzungen der Sozialleistungen, dann mußten sie herabgesetzt werden, die Steuern erhöht, die Einfuhr gedrosselt. Die Löhne würden folgen, dann auch die Preise. Hatte die »Deflation« alles falsche, üppig wuchernde Unkraut weggebrannt, so würden die Nutzpflanzen ungehindert gedeihen… Das war logisch gedacht und auch herkömmlich; unter Theoretikern und Praktikern der Wirtschaft stimmte die große Mehrzahl dem tugendhaften, zarten und eisernen Regierungschef zu. Von jenen, die anders zu denken gelernt hatten, von John Maynard Keynes zum Beispiel, hatte Brüning kaum etwas gehört. Gab es nicht Grenzen auch für das dem geduldigsten Volk Zumutbare? Würde das lebendige Fleisch nicht einmal gegen die an ihm vollzogene, qualvolle, nie endende Operation rebellieren? Er fragte es nicht, solange nur die Operation wissenschaftlich korrekt war.
Dr. Brüning brachte sein erstes Bündel von Reformgesetzen mit Hilfe der Konservativen im Reichstag durch. Das zweite nicht mehr. Nun wurde es, unter Artikel 48, als »Notverordnung« des Präsidenten eingeführt. Der Reichstag erklärte die Verordnung für null und nichtig. Darauf lösten Präsident und Kanzler den Reichstag auf. Man wußte aber nur zu gut, daß der nun folgende Wahlkampf ein ungewöhnlicher sein würde.
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Seit Jahren trieb eine politische Partei im Lande um, die alt war, aber dank der Umstände jetzt neu wurde und mit einer in der Geschichte der modernen Demokratie beispiellosen Virulenz unter den Menschen sich ausbreitete. Es waren die »Nationalsozialisten«.
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Und nun war es der Vorteil der Nazipartei, daß sie mit dem, was seit 1919 in Deutschland geschehen war, überhaupt nichts zu tun hatte. Alle anderen bürgerlichen Parteien hatten das; selbst die Konservativen, Deutschnationalen hatten doch manchmal mitregiert, mitgestimmt, sich mitkompromittiert. Nicht so die Nazis. Die hatten zehn Jahre lang angeklagt, gehaßt, verhöhnt, verflucht, nichts weiter. Sie konnten angreifen, ohne sich selber mit einem einzigen Wort verteidigen zu müssen. Wo war nun, was die anderen Parteien, rechte wie linke, zehn Jahre lang versprochen hatten? Wo die soziale Republik, der gebrochene Kapitalismus der Linken? Wo die blühende Industrie und Landwirtschaft der Rechten? An ihren Früchten sollte man das »System« erkennen, und zum System gehörten alle, die sich nicht zum Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bekannten. Er allein hatte gewarnt, er allein das, was nun war, vorausgesagt und die Gründe durchleuchtet: das Verbrechen vom November 1918, den internationalen Marxismus und sein Bündnis mit dem internationalen Großkapital, die korrupte Parteienwirtschaft, den Wahnwitz der Reparationen, die diabolischen Absichten des Judentums. »Volk reiße die Augen auf, erkenne den Betrug!… Schlagt die Verräter! Jagt die Bankrotteure zum Teufel!«… das war wirksam.
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Alle großen Parteien hatten nachgerade ihre Schutz- und Kampfverbände; die Kommunisten ihre »Roten Frontkämpfer«, die Sozialdemokraten ihr »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«, die Deutschnationalen die ihnen verbündete Frontkämpferorganisation »Stahlhelm«. Bei weitem die militanteste Truppe aber waren die »Sturmabteilungen« – SA – der Nazipartei, eine eigentliche Bürgerkriegsarmee. Wohl war dort viel im Grunde gutmütige Jugend versammelt, junge Arbeitslose, die ihre Tage in den öffentlichen Anlagen verlungert hatten, bis die Partei sie sich holte, ihnen die braune Hemdenuniform und Essen und ihrem Leben ein wenig Stolz und Sinn gab. Der Staat, der sparsame, phantasielose, kümmerliche Staat tat das nicht, also konnte die Partei sie einfangen.
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Hindenburg und die Reichswehr, das waren seit 1930 die Stützen jeder republikanischen Regierung, und wenn auch Hindenburg für den Charme Papens noch weiterhin nur allzu empfänglich blieb, so konnte der Kanzler nicht zuschlagen, ohne des militärischen Instruments sicher zu sein. Schleichers Votum erzwang Papens Rücktritt.
Und nun lagen die Dinge so, daß der General und Reichswehrminister, der seit 1928 einen so emsigen, aber unverantwortlichen Einfluß auf die Politik genommen, der Brüning und Papen erwählt und gestürzt hatte, aus dem Halbdunkel seines Büros hervortreten und die Bürde des Kanzlers selber übernehmen mußte. Die Demokratie Stresemanns, die Halbdemokratie Brünings, das autoritäre Husarenregime Papens, sie waren alle ruiniert. Es blieb, schien es, nur noch die Armee selber, nicht mehr als diskret wirkendes Zünglein an der Waage wie bisher, sondern als letztes und volles Gewicht in der Waagschale.
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Das ist eine der Merkwürdigkeiten dieses schlimmen Jahres; wie Deutschland, bevor es sich endlich dem großdeutschen Demagogen in die Arme warf, noch einmal eine Reihe von Regierungsformen der Vergangenheit rasch und vergebens durchprobierte. Brüning – das war die katholische konservative Demokratie und das Treueverhältnis zwischen König und Kanzler. Papen – das war ein Rückgriff auf altpreußischen Durchschnitt, verbrämt mit ein wenig »konservativer Revolution«. Schleicher wollte jetzt der demokratische Offizier sein, der über dem Klassengegensatz steht – auch dies eine Anspielung auf bewährte Vergangenheit, Scharnhorst, Gneisenau, selbst Caprivi, Bismarcks ersten Nachfolger. Er schere sich nicht um solche erstarrten Begriffe wie Kapitalismus und Sozialismus, teilte der neue Reichskanzler leichthin der gierig lauschenden Nation mit. Auch seien Verfassungsreformen jetzt nicht das Dringlichste – eine Spitze gegen Papen; und eine streng wissenschaftliche Finanzpolitik sei ja wohl ganz gut – das ging gegen Brüning -, aber was jetzt not tue, sei Arbeitsbeschaffung, Arbeitsbeschaffung und wieder Arbeitsbeschaffung. Da mußten die Leute ihm recht geben.
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Es war Franz von Papen, der nun gegen seinen Freund Schleicher die Rolle übernahm, welche acht Monate vorher Schleicher gegen Brüning gespielt hatte. Ob aus vaterländischer Sorge oder aus Ehrgeiz und Rachsucht, darüber wollen wir seine Freunde mit seinen Kritikern streiten lassen; die Motive können hier gleichgültig sein, würden ja auch so oder so sich nicht beweisen lassen. Das Nachdenkliche der Situation ist nur immer wieder: daß ein Mensch von solchem Federgewicht einen kurzen Augenblick lang Weltgeschichte machen und entscheiden konnte.
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Die Herren trafen sich heimlich, aber ihr Treffen wurde alsbald bekannt. Sie trafen sich noch einmal und ein drittes Mal und zogen den Sohn und den Staatssekretär Hindenburgs zu ihrem Gezettel bei und erreichten langsam eine Verständigung. Sie fanden einen General des Heeres, der bereit war, in einer von Hitler geleiteten Regierung den Posten des Wehrministers zu übernehmen.
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Zwei Tage später ernannte Hindenburg den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zum Reichskanzler. »Sie irren sich, wir haben ihn engagiert«, erwiderte Papen, als man ihn auf das Gefährliche dieses Staatsaktes aufmerksam machte. Und so sah es auch auf dem Papier aus, und so verstanden es auch die allermeisten; nicht nur die Chefintriganten, auch die öffentlichen Kritiker, die linken Journalisten, die Herren von den noch immer existierenden republikanischen Parteien. Die Machtverteilung, oder doch die Amterverteilung schien in der Tat zugunsten der Konservativen innerhalb ihrer Partnerschaft mit dem Demagogen zu sprechen. Aber von all den klugen Sicherungen war nach einem halben Jahr nichts mehr übrig als letzte Schatten und Spuren, und nach wieder einem Jahr verschwanden auch die.
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Facts:
English title: The History Of Germany Since 1789
Original title: Weimar (1918 – 1933)
Published: 1958