by Julia Franck
Das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde Ende der siebziger Jahre – Nadelöhr zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Die Lebenswege von vier Menschen kreuzen sich hier: Nelly, die mit ihren Kindern aus der DDR ausreist, Krystyna aus Polen und der aus dem Ost-Gefängnis freigekaufte Schauspieler Hans. Ihnen gegenüber steht John Bird, der als amerikanischer Geheimdienstler die Verhöre mit den Flüchtlingen führt. Er interessiert sich nicht für ihre ungewisse Zukunft, sondern für die verborgenen Geschichten ihrer Vergangenheit. Bis er an Nelly gerät, die selbstbewusst sein Spiel durchschaut.
Eine Rezension von HANS-PETER KUNISCH vom 30.09.2003 in der Süddeutschen Zeitung
Unsichere Fluchtbewegung
DDR-knisternd: Julia Francks Roman „Lagerfeuer”
„,Nein‘ rief mir der Mann mit der Polizeiuniform über das Dach hinweg zu, ,nicht Sie, nur die Kinder‘”. Seit Stunden warten Nelly Senff, Katja und Aleksey in der Hauptstadt der DDR an der Bornholmer Brücke, alle drei im Auto von West-Mann Gerd, der, wie er plötzlich sagt, Nelly gern nackt in seinen Armen halten würde. Vermutlich hat er sich deswegen bereit erklärt, als Bräutigam zu gelten, zu dem Nelly ausreisen möchte. Doch auch während die Kinder an der DDR-Grenze verhört werden, macht er nur dumme Sprüche: „Du glaubst wirklich, die haben nichts Besseres zu tun, als kleine Kinder festzuhalten?”
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Attraktion von Julia Francks Roman „Lagerfeuer” geht von der Authentizitätsvermutung aus, die ihn begleitet. Julia Franck, sozusagen die Katja des Buchs, kam als Achtjährige über die DDR-Grenze und lebte acht Monate im BRD-Auffanglager Marienfelde. Ein solches Lager ist zu drei Vierteln der Schauplatz des neuen Romans. Doch schon die komplexe Erzählperspektive – die Vorgänge werden abwechselnd von vier Ich-Erzählern berichtet – deutet an, dass „Lagerfeuer” nicht lediglich das schon vorab viel beredete persönliche Buch von Julia Franck sein soll. Eher hat man, verglichen mit früheren Texten wie „Bauchlandung” oder „Liebediener”, die sehr nahe am Alltag Berliner Dreißigjähriger blieben, den Eindruck, die Autorin erzähle den ihr nahen Stoff von sich weg. Die vier sehr unterschiedlichen Perspektiven bekräftigen die Absicht eines historisch-politischen Überblicks.
Der Chemikerin Nelly Senff ist der russische Freund und Vater ihrer Kinder gestorben, sie sieht im Osten keinen Lebensanreiz mehr. Die polnische Mit-Lagerinsassin Krystyna Jablonowska ist mit ihrem Vater und dem Bruder eingereist, der im Westen an Krebs operiert wird. Der amerikanische CIA-Beamte John Bird ist unglücklich verheiratet und verliebt sich in Nelly Senff. Hans Pischke, Schauspieler, inhaftiert, wohl weil er den Kopf der berühmten Lenin-Statue mit roter Farbe bestrich, ist vom Westen freigekauft worden.
Ein unterhaltsames Panorama in schmucklos klarer Sprache, das in seiner Struktur stark an die frühen Geschichts-Romane von Alfred Andersch, Böll, Martin Walser oder Wolfgang Koeppen erinnert, die mit der skeptischen Unparteilichkeit der Intellektuellen der fünfziger Jahre jede eindeutige Stellungnahme zum Erzählten vermieden. Gerade im melancholischen Dazwischen der Atmosphäre, im Eindruck der Unzugehörigkeit zu beiden deutschen Staaten, schließt sich Julia Franck an diese Vorgänger an, die in den letzten Jahren häufig als Beweis für eine populäre deutsche Erzähltradition angeführt wurden.
Verschärfte Verhöre
Allerdings hing das Gelingen solcher Panorama-Romane schon bei den Großvätern stark von der Überzeugungskraft der jeweiligen Perspektiven ab. Die ist hier nur bei Nelly Senff durchgängig gegeben. Vor allem die Polin wirkt demgegenüber wie eine zur Vervollständigung eingefügte Charge, die den Status einer Hauptfigur erhält, ohne dass sich dem Leser je vermittelt, warum. John Bird und Hans Pischke wiederum hinterlassen wechselnde Eindrücke. Beginnt CIA-Mann Bird in Ehekrise und Verhörsituation ziemlich einprägsam, um dann in einem konstruiert wirkenden Karrierewahn zu versinken, so entwickelt sich der Schauspieler Hans Pischke, als er plötzlich unter Verdacht gerät, ein Stasi-Agent zu sein, in seiner Vagheit, Unzuverlässigkeit und Schwäche zum neben Nelly Senff eindrücklichsten Charakter des Buchs.
Es hat eine ungewöhnliche Stärke: Die schwierigsten Szenen sind die am besten geschriebenen. Etwa die Liebesdialoge des schüchternen Hans mit der direkten Nelly. Vor allem aber bringt die erste Verhörsituation kurz nach Romananfang das Wahnwitzige des so normalen Schrecklichkeitsstaats DDR sehr gut auf Begriff und Bild.
Während die Kinder noch vernommen werden, wird auch Nelly aus dem Wagen geholt und ebenso bürokratisch wie brutal untersucht. Großartig getroffen ist die Irritation der Beamten, die merken, dass die Verhörte eine jüdische Mutter hat, die eine überzeugte Kommunistin ist. „Wusstest du das?”, fragt ein Ermittler den anderen, „war die berühmt?” Giftig, aber passend kommentiert Senff: „Sobald ein Deutscher von einem lebendigen Juden hört, glaubt er, der müsse berühmt sein.” Doch gerade als sich der Leser mit den beiden vermeintlich halbwegs harmlosen Trotteln anzufreunden beginnt, verschärft Julia Franck das Tempo. Nelly Senff muss sich ausziehen, wird im Dunkeln nackt stehen gelassen, dann kramt ein Arzt, der geheime Dokumente zu suchen scheint, demütigend in ihren Geschlechtsteilen herum.
Weniger heikel zu beschreiben, aber ebenfalls psychologisch überzeugend gestaltet ist die zweite Verhörszene. In ihr sind John Bird und seine CIA die Akteure. Auch er und seine Kollegen „verstehen” Nelly Senff nicht. Sie würden gern eine Verfolgung durch die DDR aus ihrem Mund kitzeln, doch Nelly beharrt darauf, dass das nicht stimmt. Seit dem Tod des Vaters ihrer Kinder fühlt sie sich leer. Sie sucht für sich nach einem Neuanfang.
Ein freigekaufter Zweifler
Ein ziemlich knapper, ausschließlich privater Grund, der bei genauerer Überlegung auch den Leser irritiert. Vor allem im Blick auf die Gründe des Systemwechsels bei den anderen beiden ostmüden Ich-Erzählern. Die polnische Familie sucht die bessere medizinische Behandlung. Der freigekaufte Zweifler Hans Pischke fragt plötzlich kurz vor Schluss, ob nicht alle hier im Lager „Verräter” seien, weil sie weggingen, anstatt „vor Ort und Stelle” zu „kämpfen”. Nur eine ehemalige Geliebte Pischkes taucht im Lager auf und erzählt die klassische Gruselgeschichte von Verfolgung, Bespitzelung und Flucht durchs Wasser. Von ihr aber stellt sich später heraus, dass sie offenbar Stasi-Agentin war. So entsteht, weil das Hauptinteresse Francks dem Lagerleben in der BRD gilt, der eigenartige, wohl unbeabsichtigte Eindruck, dass es in der DDR – bis auf die drastischen Verhöre an der Grenze – nicht allzu schlimm gewesen sein kann. Umgekehrt werden die ideologisch willkommenen Flüchtlinge im Westen von der CIA, schmierigen Flüchtlingshilfsorganisateuren und einem schäbig-gewalttätigen Lageralltag begrüßt, der ihnen immer wieder die Frage stellt, ob es wirklich gut gewesen ist, zu gehen, um hier anzukommen.
Doch sollte man „Lagerfeuer”, trotz der erkennbaren Ambition der Autorin, nicht zu sehr als historisch-politischen Roman lesen. Es ist auch nicht das Buch, das an Julia Francks erste Schreibversuche im Lager erinnert. Die Katja des Romans ist, mehr noch als der kleine Bruder Aleksej, eine blasse Randfigur. Sehr viel stärker bleibt der rätselhafte, im Lager fast zu Tode geprügelten Pischke (er hat etwas von Alfred Anderschs O’Malley in „Die Rote” oder Koeppens Siegfried Judejahn) in Erinnerung. Hinter dem zeitgeschichtlichen Gerüst des Romans leuchtet aber vor allem das Bild der ebenso mutigen wie verletzlichen, ebenso attraktiven wie zähen, ebenso hoffnungslosen wie liebenden Mutter hervor. Ihr vor allem hat Julia Franck mit diesem Roman ein Denkmal gesetzt.
HANS-PETER KUNISCH
JULIA FRANCK: Lagerfeuer. Roman. DuMont Verlag, Köln 2003. 302 Seiten, 19,90 Euro.
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Facts:
English title: n/a
Original title: Lagerfeuer
Published: 2003