by Golo Mann
Der Diogenes Verlag hat das ungekürzte Buch “Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts” von Achim Höppner (die Synchronstimme Clint Eastwoods) einlesen lassen und es in acht Hörbücher aufgespalten, die jeweils einen wichtigen Abschnitt in der deutschen Geschichte repräsentieren.
Dieser Krieg war nicht, wie der Zweite, ein Anachronismus, den ein einziger Verbrecher erzwang. Er ging aus dem Geist der Zeit, aus den Begriffen, in denen die Leute dachten, aus dem Stil, in dem sie lebten, stimmig hervor. Es war kein Wunder, daß er kam. Es war eines, daß er so lange nicht gekommen war. Darum die Freude. Endlich grüßte man das so lang Verdrängte, Überfällige mit Blumen. Keine andere geschichtliche Frage ist so gründlich durchleuchtet worden wie die Frage nach der Verantwortung am Krieg von 1914. In Deutschland gab es später eine Zeitschrift, genannt »Die Kriegsschuldfrage«, gab es Lehrstühle, deren Inhaber sich praktisch mit nichts anderem befaßten. Das erklärt sich wesentlich durch eine Taktlosigkeit der siegreichen Alliierten, die, der Forschung dreist vorgreifend und sich zum Richter in eigener Sache erhebend, die deutsche Alleinschuld am Kriege im Friedensvertrage figurieren ließen. Auf diesen Paragraphen gründeten sie ihr Verlangen nach »Wiedergutmachungen«; so daß also die deutschen Historiker nur die These von der Alleinschuld widerlegen zu müssen schienen, um damit das ganze Gebäude des Versailler Vertrages moralisch und rechtlich zu Fall zu bringen.
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Alle hielten sich für die Angegriffenen, Könige, Diplomaten, Völker. Streng logisch stimmte das nicht. Denn, wo alle angegriffen sind, da greift niemand an und da ist niemand angegriffen. Aber die Wirklichkeit hat keinen Ehrgeiz, logisch genau zu sein. Tatsächlich glaubte Rußland sich durch den österreichischen Akt gegen Serbien und tatsächlich glaubte Deutschland sich durch die russische Mobilmachung angegriffen, so daß der Brand etwas von Selbstentzündung an sich hatte, unter deren Eindruck jeder den anderen beschuldigte und alle sich als Opfer fühlten. Gleichzeitig aber fanden alle es schön, angegriffen zu sein. Jubel herrschte in Europa in den ersten Augusttagen des Jahres 1914, Jubel, Kriegswut und Kriegsfreude.
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1914
Scheitern der französischen Offensive im Süden; erstes Anzeichen dafür, daß in diesem Krieg die Verteidigung stärker ist als der Angriff. Hastiges Zurücknehmen und Reorganisieren der Truppe für die Verteidigung von Paris. Erfolg, zunächst, der deutschen Offensive im Norden, Besetzung Belgiens, Besetzung Nordfrankreichs; aber dann beginnende Unordnung.
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Oktober-November folgte ein deutscher Versuch, zu den Kanalhäfen vorzudringen und so Frankreich von England abzuschneiden. Auch diese Bewegung gedieh bis zu einem gewissen Punkte; worauf auch sie ins Stocken geriet.
Von da ab, November 1914 bis März 1918, geschah an der Westfront nicht viel. Nur Offensiven und Gegenoffensiven eben dort, wo der Gegner am stärksten war; Schlächtereien mit immer wirksameren Mitteln der Massenvernichtung. Aber nie eine Bewegung der Frontlinie um mehr als zehn Kilometer.
1915.
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Erich Ludendorff kennt nur zwei mögliche Ausgänge des Krieges, den ganzen Sieg oder die ganze Niederlage. Zu was der ganze Sieg eigentlich gut sein soll, kümmert ihn nicht. Die Niederlage nennt er den »Untergang«, wieder ohne sich vorzustellen, wie so ein Untergang eigentlich aussehen und was danach kommen soll. Sein Kommando markiert den Beginn eines Spieles, welches dem deutschen Charakter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl irgendwie liegt, zumal es, fünfundzwanzig Jahre nach Ludendorff, noch einmal gespielt wurde: des Spieles »Sieg oder Untergang«, »Alles oder Nichts«.
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Deutschland bietet, Dezember 1916, Friedensverhandlungen an. Der Kaiser meint das ehrlich, er sehnt sich nach der guten alten Zeit; die Sache ist ihm längst tief unheimlich geworden. Auf Grund des letzten siegreichen Feldzugs auf dem Balkan glaubt man, das Angebot wagen zu können. Leider wird bei seiner Formulierung »der Siegerton stark unterstrichen« (Bethmanns Ausdruck); anstatt daß es von irgendwelchen konkreten Bedingungen handelte, etwa die Freigabe Belgiens verspräche.
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Trotzdem darf man am Scheitern dieser Friedensaktion nicht den Deutschen allein die Schuld geben. Die Alliierten fühlen sich im Moment unterlegen, im Prinzip und auf die Dauer aber doch überlegen, und in einer solchen Lage verhandelt man nicht gern. Sie glauben sich noch stärker im Recht als die Deutschen, und die Herzen ihrer Führer, deren eigene Machtstellung auf dem Kriege beruht, sind noch verhärteter. Daß der Krieg Unsinn ist, kann keine der Parteien eingestehen. Jede muß der anderen Schuld an ihm geben. Wie auch Deutschland es in seinem Friedensangebot tut. Die Alliierten bleiben die entrüstete Antwort nicht schuldig. Allein dieser klägliche Zank würde den Beginn ehrlicher Verhandlungen von gleich zu gleich unmöglich machen.
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Der unbeschränkte U-Boot-Krieg wird proklamiert. Darauf brechen die Vereinigten Staaten die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und, nachdem einige amerikanische Schiffe versenkt wurden, erklären sie den Krieg an Deutschland. Amerika hat neutral bleiben wollen, aber man hat es angegriffen, hat sein heiligstes Recht verletzt; nun muß es mithelfen, um den deutschen Militärdespotismus niederzuschlagen. So die offizielle These. Sie enthält die ganze Wahrheit nicht. Längst stand Amerika den Alliierten näher als den Mittelmächten, es ist von der mit hohem Geschick geleiteten englischen Propaganda nicht unberührt geblieben. Längst auch war man in Washington nicht unberührt von Argumenten realpolitischer Art: Ein von Deutschland beherrschtes Europa würde das Gleichgewicht der Mächte auf Erden über den Haufen werfen, Amerika müßte dann selber zu einem bewaffneten Heerlager werden,
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An ihre Spitze trat als Reichskanzler ein süddeutscher Magnat, der Thronfolger im Lande Baden, Prinz Max. … Prinz Max kam nach Berlin mit dem Gedanken, daß Deutschland nicht mehr siegen, den Feinden den Sieg aber noch immer sauer machen könnte;-hierauf hoffte er seine Politik zu bauen, die zu einem in Grenzen zu haltenden Verlustfrieden führen würde, nicht zur Kapitulation. Er hatte sein Amt noch nicht angetreten, als er erfuhr, zu welchem Geschäft er auserlesen war. Er protestierte, verlangte Durchhalten wenigstens einen Monat länger; mit einem immer wiederholten »Ich will meine Armee retten«, bestand Ludendorff auf der Bitte um Waffenstillstand sofort. Dem gab Prinz Max nach, Verzweiflung im Herzen. Die Linie, welche er zu verfolgen gehofft hatte, war damit auf immer verloren.
Ludendorff begriff das nicht einmal. Er begriff die politische Bedeutung des von ihm geforderten Waffenstillstandes gar nicht. Er glaubte wirklich, er könnte während eines solchen seine todmüde Armee mit allem, was ihr gehörte, heil aus Frankreich und Belgien ziehen, sie stärken zu neuen Tagen; so daß, wenn die Friedensverhandlungen nicht angenehm verliefen, man mit frischen Kräften wieder würde kämpfen können.
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Am 6. November trat die deutsche Waffenstillstandsdelegation, geführt von Matthias Erzberger, die Reise ins feindliche Hauptquartier an. Völker und Führer der Ententemächte wälzten sich in der traurigen, schmutzigen Illusion des Sieges.
Was für die Parteiführer galt – »Wir sind belogen und betrogen worden!« -, galt für die Massen des Volkes, und für diese mehr als für jene, welche die rechten Einsichten hätten haben können und sollen. Die Politiker hatten sich selber betrogen; die Massen waren betrogen worden. Als sie dies erkannten, war kein Halten mehr. Der Krieg, der vier Jahre lang als Angriffskrieg und Siegeskrieg geführt worden war, konnte jetzt nicht mehr als Verteidigungskrieg geführt werden, der Krieg der Obersten Heeresleitung jetzt nicht als Volkskrieg; im Massenheer hatte das Volk sich längst erschöpft.
Auf die schwache Revolution von oben, die Parlamentarisierung im Oktober, folgte in den ersten Novembertagen eine schwache Revolution von unten, ein Militärstreik. Er begann bei der Flotte in Kiel als Gehorsamsverweigerung der Matrosen, Streik der Arbeiter; sprang rasch über auf andere Seestädte, Hamburg, Bremen, Lübeck, dann auf die Hauptorte im Reich hier und da, München, Köln, Braunschweig, dann beinahe überallhin, zuletzt auf Berlin: rote Fahnen, Versammlungen auf freiem Feld, Umzüge, Geschieße und Herumgefahre. Die Sozialdemokraten wünschten die verfassungsmäßige Kontinuität – die Monarchie in irgendeiner Form – zu retten. Als die revolutionäre Bewegung überhandnahm, blieb ihnen nichts übrig, als ja zu ihr zu sagen. In Berlin rief Philipp Scheidemann am 9. November von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die Republik aus, zwei Stunden, bevor Karl Liebknecht vor dem Schloß die sozialistische Republik im russischen Sinn proklamierte.
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Die Bundesfürsten entsagten ihren Thronen und verschwanden. Wilhelm begab sich nach Holland – eine Abdankungsurkunde sandte er später ein. In Berlin ernannte Max von Baden den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei, Ebert, auf eigene Faust zum Reichskanzler.
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In der Nacht vom 9. zum 10. November führte der Volksbeauftragte Ebert ein denkwürdiges Telefongespräch mit General Groener, Ludendorffs Nachfolger. Groener notierte am nächsten Morgen in seinem Tagebuch: »OHL stellt sich der Regierung zur Verfügung.«
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Mit Ebert und seinen Freunden schloß die Oberste Heeresleitung ihr Bündnis am 10. November. »Es kann bekanntgegeben werden«, so telegraphierte Hindenburg an die Armeekommandos, »daß die OHL mit dem Reichskanzler Ebert, dem bisherigen Führer der gemäßigten Sozialdemokratischen Partei, zusammengehen will, um die Ausbreitung des terroristischen Bolschewismus in Deutschland zu verhindern.« Generäle und Sozialdemokraten hatten dies gemeinsam, daß ihnen beiden die Ordnung sehr am Herzen lag.
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Westlich der russischen Grenze sind die Deutschen die stärkste Nation in Europa an Energie und an Zahl. Macht ernst mit dem Prinzip des Nationalstaates, wie man jetzt in Paris, in Washington ernst damit machen will, zieht die Staatsgrenzen überall entlang den Sprachgrenzen; und Deutschland, bereichert durch weite Alpen- und Donaugebiete, wohl auch durch das nördliche Böhmen, könnte den Verlust Posens und Elsaß-Lothringens verschmerzen. Seine neue Verfassung sieht die Vereinigung Deutsch-Österreichs mit dem Reiche vor, und beide Regierungen, die Wiener und die Berliner, machen Anstalt, sie zu vollziehen.
Aber so verstehen es die Sieger nicht. Das fehlte noch, daß ihr qualvoll errungener Triumph dem Gegner größere Beute brächte als ihnen selbst, daß er gefestigter und größer als vorher auf der Karte erschiene; so daß er die Unabhängigkeit ihrer neuen Freunde im Osten und Südosten bedrohlich beengen, umklammern, sehr bald ersticken müßte. So konsequent kann man einen Begriff wie den der nationalen Selbstbestimmung denn doch nicht anwenden. Er gilt da, wo er gegen Deutschland angewendet werden kann. Wo er aber so übermächtig für Deutschland wirken würde, da darf er nicht gelten. Den Österreichern wird die Vereinigung mit Deutschland kurzerhand verboten.
Im Frühjahr 1919 beraten in Europa zwei Versammlungen. Die eine, in Paris, soll der Welt den Frieden geben, die andere, in Weimar, aus Deutschland eine Republik im westlichen Stil machen. »Aber eine Neuordnung, die Produkt dieser furchtbaren Niederlage und Schändung ist, wird schwerlich einwurzeln.« (Max Weber)
Facts:
English title: The History Of Germany Since 1789
Original title: Der Erste Weltkrieg (1914 – 1918)
Published: 1958