by Golo Mann
Der Diogenes Verlag hat das ungekürzte Buch “Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts” von Achim Höppner (die Synchronstimme Clint Eastwoods) einlesen lassen und es in acht Hörbücher aufgespalten, die jeweils einen wichtigen Abschnitt in der deutschen Geschichte repräsentieren.
eine Schlacht in Böhmen, Königgrätz. So wie Bismarck den Diplomaten, so erwies sich die preußische Kriegsmaschine, jüngst überholt, blitzschnell und vorzüglich gesteuert wie sie war, der veralteten Armada des Bundes überlegen. Der Überlegene greift an, der Angreifer ist überlegen, fast immer; nur muß er wissen, ein Ende zu machen, solange die Überlegenheit anhält.
Bismarck wußte das. Wenn er nie dreister, man ist versucht zu sagen, verbrecherischer handelte als während der Monate vor diesem seinem entscheidenden Triumph, wenn er alles, auch wohl sein eigenes Leben dabei aufs Spiel setzte, so war er nie weiser als nach dem Siege. Er ließ sich nicht ins Maßlose treiben, wie Napoleon I. Kriegen und Siegen wurde ihm, der zu seinem Glück ein Zivilist war, nie zum Selbstzweck. Das berühmte Wort des Generals Clausewitz, wonach Krieg die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« sei, war wie auf seine Staatskunst geprägt. Er beherrschte die Sache, sie beherrschte nicht ihn. Nachdem er seinen König mit der emsigsten List und nervenpeinigender Geduld in den Krieg gegen Österreich gezerrt hatte, zerrte er ihn nun, wiederum unter den entsetzlichsten Nervenstrapazen, aus dem Kriege heraus. Der gute Monarch wäre nur zu gern als Sieger in Wien eingezogen und hätte dem Feinde nur zu gern nach altem Brauch ein fettes Stück Land weggenommen. Bismarck sah nach St. Petersburg, wo man unruhig wurde. Er sah nach Paris, wo man sehr unruhig wurde und die Friedensvermittlung bot, um welche Österreich ersuchte. Er dachte, trotz des Siegesrausches der Gegenwart, an Gefahren und Wünschbarkeiten der Zukunft. Der Friede, den er durchsetzte, beruhte auf einfachen Bedingungen.
Frankreich war schwach, Preußen stark. Die preußischen Heerführer wußten das; die Franzosen wußten es nicht, obgleich Napoleon es ahnte. Drei Wochen nach Kriegsausbruch wußte es jedermann.
Es ist ein eigenartiger Vorgang, die Gründung dieses neuen Deutschen Reiches, für den man in der Geschichte vergebens nach Vergleichen sucht. Hier ist alles unrein, nichts eindeutig zu benennen. Es war das Volk, das die Einigung in irgendeiner Form wollte und längst gewollt hatte. Aber es war nicht das Volk, das die Einigung vollzog. Sie wurde unter Staaten vollzogen, indem der eine große Staat, Preußen, die kleinen zwang; welcher Zwang dadurch verborgen blieb, daß große Teile des Volkes bei der Sache mitmachten. Mit dem Resultat waren die wenigsten voll zufrieden. Die einen beklagten die gewalttätige preußische Führung, die anderen die Sonderrechte, welche Bismarck den Süddeutschen zugestanden hatte; glücklich waren selbst die Vertreter und Träger der Macht nicht, die zuletzt alles entschied.
Über den Antisemitismus
Auch der Antisemitismus, an sich eine viel ältere menschliche Unart, wurde jetzt in der Form falscher Wissenschaftlichkeit geboten, als Lehre vom Wert und Unwert menschlicher Rassen, die ein französischer Edelmann auskochte und die von deutschen Bildungsphilistern übernommen wurde. Seine Bequemlichkeit und verführerische Anziehungskraft lag anderswo. Im Zeichen des Antisemitismus ließen sich alle Gefühle der Unsicherheit und Unzufriedenheit, des Stolzes, der Furcht und des Hasses auf einen einzigen Nenner zusammensudeln. Man konnte gegen den Liberalismus sein – es gab liberale Juden. Gegen den Kapitalismus – es gab jüdische Finanziers. Gegen den Sozialismus – Marx und Lassalle waren Juden gewesen. Gegen jede Form von Internationalismus – in dem waren die Juden von alters her zu Hause. Gegen die österreichische Monarchie – in Wien, Prag, Budapest gab es viele Juden und erfolgreiche unter ihnen. Auch gegen Bismarck – der Fürst ließ sein Vermögen von einem jüdischen Bankier verwalten. Der Antisemit brauchte sich so nicht die Mühe zu nehmen, in seiner Zeit sich einen Gegner zu wählen; er konnte, vage, gegen seine ganze Zeit sein, insofern sie vom Judentum angeblich repräsentiert wurde, vage etwas anderes und Schöneres wollen, mit seinem Haß und seiner Sehnsucht sich außerhalb jedes bestehenden Gegensatzes stellen. Das ist auch ein halbes Jahrhundert später noch so gewesen, als der Antisemit Kapitalismus und Kommunismus, Friedensliebe und Kriegsverherrlichung, Internationalismus und Nationalismus zu einem einzigen Gegenstand seiner Verneinung zusammensudelte. Eine denkfaule Feindschaft. Aber stark.
Über Friedrich Nietzsche
… der Altphilologe Dr. Friedrich Nietzsche, Professor an der Universität Basel, wegen eines Leidens frühzeitig auf magere Pension gesetzt. Von dem müssen wir nun handeln. Der war unabhängig; kein erfolgsumrauschter Repräsentant seiner Zeit, sondern ihr Kritiker. Und einen hellsichtigeren Kritiker hat es nie, zu keiner Zeit, in keinem anderen Land gegeben.
Nietzsches Werk ist sein Leben, das in seinem Werke pulst. Sein Werk war eine persönliche Katastrophe, die die allgemeine Katastrophe Europas anzeigte und vorwegnahm. Und das war er selber, eine Katastrophe. Manches prophezeite er, indem er sich darauf zu freuen behauptete, während ihm in Wahrheit davor graute.
Er prophezeite ein Jahrhundert der Weltkriege, der Revolutionen und Erdkonvulsionen. In ihnen würde alles Falsche, Kranke, ausgestampft, würden die Schwachen unterworfen werden oder untergehen; aus ihnen sich erheben würde neue Macht, die Herrschaft der Starken, Erbarmungslosen. Denn Leben sei Wille zur Macht, Kampf um Macht; und alle christliche Tugend nur der Schwindel derer, bei denen es zum Kampf nicht ausreichte… Inwieweit Nietzsche das letztere ernsthaft geglaubt hat, weiß ich nicht…
Prophet der Kriege, Verherrlicher der Macht, hätte er nun eigentlich ein Anhänger des neuen Deutschland sein müssen. Das war er aber gar nicht. Er war ein Liebhaber des alten, des goethischen Deutschland, nicht des bismarckischen. Die Politisierung des deutschen Volkes, so fand er, ging vor sich auf Kosten seiner alten Tugenden. »Es zahlt sich teurer, zur Macht zu kommen; die Macht verdummt… die Deutschen – man hieß sie einst das Volk der Denker; denken sie heute überhaupt noch?
Was vollends die Judenhetze betraf – Nietzsches Ekel vor der war ein nahezu körperlicher; es schauderte ihn bei der Berührung mit Leuten, die einen so schmutzigen Trieb zur Weltanschauung erhoben. »Wieviel Verlogenheit und Sumpf gehört dazu, um im heutigen Mischmasch-Europa Rassenfragen aufzuwerfen! (Gesetzt nämlich, daß man nicht seine Herkunft in Borneo und Horneo hat.)« »Maxime: mit keinem Menschen umgehen, der an dem verlogenen Rassen-Schwindel Anteil hat.«
Facts:
English title: The History Of Germany Since 1789
Original title: Preußen erobert Deutschland (1861 – 1888)
Published: 1958