by Amitav Ghosh
ANDREAS KILB vom 11.01.2017 in der FAZ
Blitze, die vom Himmel regnen
So viel Getümmel und kein Bild: Amitav Ghosh beendet seine Romantrilogie über die Opiumkriege des neunzehnten Jahrhunderts mit “Flut des Feuers”.
In diesem Buch kann man lernen, wie man eine Seeschlacht beschreibt. “Rauchwolken quollen am Steuerbordbug beider Kriegsschiffe auf. Als uns der Schall über das Wasser hinweg erreicht hatte, war die chinesische Flotte bereits hinter einer dichten weißen Wolke verborgen. Gleich darauf drangen Geräusche anderer Art zu uns herüber: ein grauenvolles, mit Schreien und Rufen vermischtes Krachen und Splittern. Es war, als wären Blitze vom Himmel geregnet und hätten die Stromenge in Brand gesetzt.”
Es sind englische Fregatten, die sich hier mit chinesischen Dschunken duellieren, es ist das erste Gefecht des Opiumkriegs im November 1839, aber es könnten auch irgendwelche anderen Segler sein, die irgendwo mit Bronzekanonen aufeinander schießen, denn das Entscheidende an der Szene ist nicht das, was darin passiert. Es ist die Perspektive, aus der es betrachtet wird. Autoren historischer Romane machen sich oft keinen großen Kopf darüber, wem sie die überlieferten Fakten, die zum Rahmen ihrer Geschichte gehören, in den Mund legen. Bei dem indischen Schriftsteller Amitav Ghosh ist das anders. Er schildert die Schlacht bei Chuenpi in der Mündung des Perlflusses mit den Augen von Nil Rattan Halder, einem indischen Raja, der in der Provinzhauptstadt Kanton Zuflucht gefunden hat, so wie er auch für jedes andere der zahlreichen Gemetzel, die in seinem Buch vorkommen, einen Erzähler oder zumindest eine Leitfigur hat.
Bei Ghosh gibt es, anders gesagt, den besserwisserischen Feldherrnblick nicht, der so viele Produkte des Genres zur Dutzendware macht. Das heißt nicht, dass der Verfasser des Romans kein “poeta doctus” wäre; im Gegenteil, “Die Flut des Feuers” strotzt geradezu vor Gelehrsamkeit. Aber das Wissen, das sich Ghosh, wie die Leseliste am Ende des Buches zeigt, in den Bibliotheken der Welt angelesen hat, ist kein Selbstzweck, es trägt die Erzählung wie die Planken, die den Rumpf der Segelschiffe bilden.
“Die Flut des Feuers” ist der letzte Teil einer Trilogie, die Ghosh vor neun Jahren mit “Sea of Poppies” (“Das mohnrote Meer”) eröffnet und 2011 mit “River of Smoke” (“Der rauchblaue Fluss”) fortgesetzt hat. In allen drei Romanen dient der Schoner “Ibis”, der als Transportschiff für Sträflinge und Vertragsarbeiter zwischen Kalkutta und Mauritius und als Opiumfrachter nach China pendelt, als Vehikel der Geschichte. Dennoch spielt der größte Teil der Geschichten an Land – “Das mohnrote Meer” in Kalkutta, “Der rauchblaue Fluss” in Kanton, “Die Flut des Feuers” in Kalkutta, Kanton und Hongkong. Obwohl er stets betont, wie sehr die Seefahrt ihn fasziniert, ist Ghosh kein Romancier des Reisens. Sein Thema ist nicht das Meer, es sind die Länder, die es verbindet, und die Schicksale, die es miteinander verknüpft.
Jedes Buch der Trilogie hat zwei zentrale Figuren, die wie These und Antithese aufeinander bezogen sind. Im “Mohnroten Meer” sind es die vor ihrer rituellen Selbstverbrennung geflohene Witwe Diti und der verarmte Raja Nil, die im Laderaum der “Ibis” zusammentreffen; im “Rauchblauen Fluss” ist es der parsische Händler Bahram Modi, dessen Opiumladung in China beschlagnahmt wird, und der englische Maler Robin Chinney, der die letzten Tage der europäischen Handelsniederlassung in Kanton mit dem Pinsel festhält. Im dritten Band stehen nun wieder zwei Männer im Mittelpunkt: der von der “Ibis” abgemusterte Matrose Zachary Reid, der im Lauf der Handlung zum Kapitän seines früheren Schiffes aufsteigt; und Kesri Singh, ein Sergeant der Sepoy-Truppen, welche die East India Company neben regulären britischen Einheiten bei der Eroberung der chinesischen Festungen am Perlfluss einsetzt.
Ein Seemann und ein Soldat: Sie verkörpern die ökonomische und die martialische Seite des Feldzugs, den das britische Empire gegen das morsche Imperium der Qing-Kaiser führt. Sie stehen aber auch für die zwei Kulturen, die in diesem Krieg Seite an Seite kämpfen, die indische und die angelsächsische. Reid, der seine afroamerikanische Mischlings-Herkunft streng geheimhält, saugt die Freihandels-Ideologie der Kolonialherren so begierig auf, dass er sich in ein echtes Scheusal verwandelt. Kesri Singh dagegen gerät im Fortgang der Schlachten und Belagerungen immer stärker ins Grübeln über den Sinn seines Tuns: “Im Innersten wusste er, dass sich noch viele Generationen nach ihm für sein Handeln würden verantworten müssen.” Beide aber, der Seefahrer und der Sepoy, werden zum Schluss reich, der eine durch den Opiumhandel, der andere durch die Gunst eines britischen Offiziers.
Als Gegengewicht zum kriegerischen Hauptgeschäft hat Ghosh eine erotische Nebenhandlung in den Roman eingefügt. Zachary, der – ausgerechnet – das ehemalige Hausboot des Rajas Nil repariert, das inzwischen dem Opiumhändler Burnham gehört, gerät in die Fänge von Burnhams unbefriedigter Ehefrau. Zuerst schickt sie ihm Traktate über die Gefahren der Onanie, dann zeigt sie ihm, wie er seinen “lathi” handhaben muss, um ihr einen “shoke” zu verschaffen. Es ist der Augenblick, in dem die wie stets mit indischen Wörtern gespickte Sprache der Ghosh-Romane – hier wird eine “chuckmuck Party” gegeben, dort ein “Reise-batta” gewährt – ins Schlüpfrige und Schnucklige kippt. Und es ist zugleich der Punkt, an dem die sonst so präzise und ausgeruhte Erzählweise von Amitav Ghosh zum ersten Mal zerstreut wirkt, flapsig, ornamental.
Der Sozialanthropologe und spätberufene Romanautor Ghosh war nie ein Meister psychologischer Feinmalerei. Aber er hat, von seinem Bestseller “Der Glaspalast” bis zu den beiden ersten Bänden der “Ibis”-Trilogie, historische Fakten und fiktive Figuren auf eine Weise verwoben, die zugleich aufklärerisch und sprachmächtig war. An seinen Büchern konnte man sich berauschen, ohne mit der Katerstimmung der Kolportageliteratur aufzuwachen. “Die Flut des Feuers” hat einen anderen Effekt. Das Buch wirkt ermüdend, gerade weil es sich so gründlich müht, unterhaltsam zu sein. Man spürt, wie Ghosh darum ringt, das Panorama des Opiumkriegs, vom ersten Scharmützel bis zur Besetzung Kantons, möglichst anschaulich zu schildern, ohne seine Helden darin zu Statisten zu degradieren. Aber am Ende gleicht er jenen Schlachtenmalern, die vor lauter Getümmel kein richtiges Bild mehr zustande bekommen. Der Roman schließt mit einer Versteigerung, bei der die Hafengrundstücke der von den Briten annektierten Insel Hongkong unter den Hammer kommen. Eine Parzelle mit 2800 Quadratmetern geht für 265 Pfund weg, ein Areal von 3350 Quadratmetern dagegen für 264. So genau wollte man es eigentlich gar nicht wissen.
Dass die “Ibis”-Trilogie in derart flachen Wassern Anker wirft, ist nicht allein die Schuld ihres Autors. Tatsächlich bieten die Opiumkriege, in denen die britische Weltmacht dem militärisch unterlegenen China ihr Monopol im Drogenhandel aufzwang, ein so deprimierendes Spektakel, dass auch der größte Erzähler daraus keine süffige Story hätte stricken können. Aber vielleicht hätte gerade darin die Herausforderung dieses Stoffs bestanden: keinen bestsellerfähigen historischen Roman zu schreiben, sondern ein rauhes Klagelied, eine Elegie. Amitav Ghosh hat sich ihr leider nicht gestellt.
Facts:
English title: Flood of Fire
Original title: Flood of Fire
Published: 2015