by Vladimir Zarev
KLAPPENTEXT
Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm. Vladimir Zarev erzählt im Roman “Familienbrand” die Familiengeschichte der Weltschevs. Petruniza, die Witwe des alten Assen Weltschev, lebt mit ihren fünf Kindern in Widin, einer verschlafenen Kleinstadt am Unterlauf der Donau. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird auch Widin in den Strom der Politik gerissen; in diesen unruhigen Zeiten suchen die Brüder Weltschev ihr Glück auf unterschiedliche Weise: Panto macht Karriere als Bankier, Ilija als Fabrikant und Ausbeuter. Christo, der sich für den Sozialismus begeistert, wird zum Helden wider Willen, und Jordan will eine Kirche bauen, einen Ort der Buße, doch es wird eine Raststätte, ein Ort der Muße für Sünder aller Art.
Rezension von Judith Leister, 16.6.2009 in der NZZ
Nicht weit vom Stamm
Viel, so könnte man meinen, wird nicht los gewesen sein in Widin um 1900. In der bulgarischen Kleinstadt an der rumänischen Grenze gibt es die alte Festung Baba Vida, die orthodoxe Dimitrios-Kathedrale, eine Moschee und eine Synagoge. Man lebt so dahin zwischen Kirchen- und Kneipenbesuch, Dampfbad und Donauhochwasser, der stadtbekannten walachischen Prostituierten und dem Esperanto-Klub. Viele träumen von Wien, der flirrenden k. u. k. Hauptstadt. Aber nur die wenigsten bekommen es zu Gesicht. Die gewöhnlichen Widiner sehen fremde Länder ohnehin nur im Krieg.
Widin ist nicht Wien, nein, aber in seinem grossartigen Roman «Familienbrand» verwandelt der 1947 geborene Vladimir Zarev das Städtchen an der Peripherie in einen Mikrokosmos der bewegten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hinter brüchigen Fassaden brodeln nämlich Leidenschaften von alttestamentarischer Wucht; es wetterleuchten früh die grossen Ideologien, die später ganz Europa verheeren. Seine Erzählung kleidet Zarev in die Form eines ebenso sinnlichen wie anspruchsvollen Familienepos, das die grosse Geschichte in sich aufgesogen hat wie ein Schwamm die Flüssigkeit und den Leser daher nie mit ausladenden historischen Exkursen strapaziert.
Schuld und Schicksal
Als der alte Assen Weltschev 1895 stirbt, weiss nur seine Frau Petruniza, dass er ein Verbrechen begangen hat. Wie die biblische Erbsünde hängt diese Schuld auch über dem Schicksal seiner vier Söhne. Der älteste, Jordan, eine saufende und Fleisch verschlingende Kraftnatur wie der Vater, erbt die Kneipe, verausgabt sich beim Bau einer nutzlosen Herberge, wird zum Mörder aus Eifersucht und stirbt im Krieg. Christo, der Intellektuelle und Kommunist in der Familie, versagt beim Widiner Aufstand und wird trotzdem zum Helden – während die anderen Rebellen vom Bezirksvorsteher mit einem Schiff in der Donau versenkt werden. Ilija wiederum, ein hässlicher Ehrgeizling mit faustischen Zügen, heiratet eine schöne und untreue Frau, an die ihn eine verhängnisvolle Lust fesselt. Er stampft eine Porzellanfabrik aus dem Boden; das Kapital dazu hat er aus einem Versicherungsbetrug. Der vierte Bruder ist der schöne Faulenzer Panto. Seine reiche und unattraktive Frau, eine Bankierstochter, betrügt er eifrig. Nach seinem Ruin hängt er sich auf. Ausserdem gibt es noch Jonka, die einzige Tochter von Assen und Petruniza. Die hellsichtige Frau ist kinderlos geblieben. Wie ihre Mutter verkörpert sie die schwachen Kräfte, welche die Familie zusammenhalten.
Der Familienfluch setzt sich in der nächsten Generation fort. Die Söhne der vier ungleichen Brüder zieht es in die Stadt, nach Sofia. Zwei von ihnen werden sogar zu ideologischen Gegenspielern, nachdem die schwache bulgarische Demokratie Mitte der dreissiger Jahre ins Grab gesunken und durch die monarchistische Diktatur des Zaren Boris III., eines Abkömmlings des Hauses Sachsen-Coburg, ersetzt worden ist. Während der junge Kommunist Assen politische Attentate verübt, kann sein zackiger Vetter Boshidar den endgültigen Sieg des Faschismus kaum erwarten. Von Hitler erträumt er sich die Lizenz für ein faschistisches Grossbulgarien. Doch mit dem Einmarsch der Roten Armee wendet sich das Blatt im mit Nazi-Deutschland kollaborierenden Bulgarien. Der Offizier Boshidar – im untergehenden Sofia ist er auch noch zum Mörder aus Leidenschaft geworden – wird exekutiert, als 1944 die Stalinisten an die Macht gelangen.
Ein Kultbuch
«Familienbrand» ist erstmals 1978 im kommunistischen Bulgarien erschienen. Der Roman wurde von der gleichgeschalteten Kritik fast komplett ignoriert, galt unter der jungen Generation jedoch als Kultbuch. In der Tat hat dieses Meisterwerk mit Sozrealismus nichts am Hut. Alle Figuren, auch der «Kapitalist» und Fabrikant Ilija, sind differenziert geschildert und weit mehr als nur Träger einer Weltanschauung. Der Originaltitel «Bitieto» – zu Deutsch «Genesis» oder auch «Sein» – bezeichnet den universalen Anspruch dieses opulenten Romans. Es geht hier nicht nur um die Genealogie des sündenbeladenen Clans der Weltschevs, deren Gene sich in jedem Familienmitglied ähnlich, aber immer anders ausprägen, sondern auch um eine mythische Vorgeschichte Bulgariens, die mit einem ideologischen Materialismus unvereinbar ist.
Vladimir Zarev ist eine Ausnahmeerscheinung in der bulgarischen Literatur. Immer wieder wagt er sich an grosse Epochenbilder seines Landes – etwa über den einflussreichen Ketzer Bogomil aus dem 9. Jahrhundert oder die Verwerfungen der postkommunistischen Ära («Verfall», dt. 2007). «Familienbrand» erinnert mit seiner grotesken Komik und den vielen merkwürdigen Typen an Gogol, passagenweise, gerade in den Dialogen zwischen dem Studenten Assen und seinem skeptischen Professor, auch an den Moraldiskurs eines Dostojewski. Die überbordende sprachliche Fülle hat Thomas Frahm in ein so vitales wie elegantes Deutsch übertragen. «Bitieto» ist übrigens der erste Band einer grossen bulgarischen Trilogie, die noch unübersetzt ist und von Zarev derzeit fortgeführt wird. Man darf gespannt sein, was in seinen Schubladen und Regalen sonst noch so schlummert.
Facts:
English title: n/a
Original title: Битието
Published: 1978