by Martin Kluger
You can’t read it in small pieces, you need to take your time to enjoy this lively and funny book. Indeed funny and tragic: one of the animal keepers is mad, he thinks that he is from the planet Rillie and his relatives lost him on earth. I I read on my trip through Greece on ferries and in buses.
Here follows a review and summary from the Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2002, Nr. 25 in German:
“Auch Tiere haben ihre Schicksale? Haben sie? Spielen sie nicht eher Schicksal und kommen dem Menschen in seiner Lebensbahn in die Quere, rennen ihm vors Auto oder laufen ihm zu? Manche sagen das Schicksal auch voraus. Zu ihnen gehört der uralte Graupapagei Schiefhals, den manche Besucher dieses Zoos wie ein antikes Orakel konsultieren. Der sprachbegabte Vogel, geschlüpft 1897 in Ostafrika, hat zwei Weltkriege überlebt und verzückt manchmal mit einem seichten Schlager aus den dreißiger Jahren. Er ist das geheime Zentrum dieses Zoos, sein Gedächtnis und sein Archiv, das seine Schätze jedoch nie auf Verlangen, sondern immer nur nach eigenem Gutdünken freigibt. Denn Schiefhals ist, wie alle Tiere, unberechenbar.
Auch Menschen sind Tiere, biologisch gesehen. Als die junge, attraktive Verhaltensforscherin Dorothee Matthes in diesem legendären Zoo, dem “artenreichsten der Welt”, Wohnung nimmt, um beim Direktor ihre Doktorarbeit über “Bewegungsstereotypien bei Großkatzen” zu verfassen, unterwirft sie das Zoopersonal dem gleichen kühlen Blick wie den persischen Leoparden, der ihr Forschungsobjekt ist. Mit ihren Augen entdeckt der Leser in Martin Klugers Roman einen Mikrokosmos, der sich zur Welt weitet und plötzlich seine eigene Geschichte erzählt, die bis ins Berlin der Nazizeit und nach Deutsch-Ostafrika führt. Die Natur macht keine Sprünge. Will heißen: Der Geschichte entkommt man auch im Tierreich nicht.
Wie die entdeckerfreudige und liebeshungrige Matthes gegenüber den Tieren keine wissenschaftliche Distanz halten kann, verfällt sie auch der Faszination des zoologischen Gartens, der ein Paradies vor dem Sündenfall ist. Zwar ist Klugers Zoo alles andere als das konsumierbare Idyll, er kennt Gewalt, Kannibalismus, Rivalenkämpfe, doch keine Schuld: Alles, was hier geschieht, ist Biologie, Instinkt und Automatismus. Die ethologischen Lehrsätze gelten für die Tiere ebenso wie für ihre Wärter, die mit ihrem Balzverhalten und kleinkarierten Revierzuständigkeiten ironisch auf tierisches Maß zurückgestuft werden.
Die Doktorandin gerät so in ein undurchsichtiges Ringen um Macht und Einfluß. Da ist zunächst der Direktor, ein alkoholkranker, größenwahnsinniger Alleinherrscher in seinem Reich, Verfasser zahlreicher Standardwerke und Zuchtkoryphäe, hochgeschätzter “Vater des maximiert resistenten Miniaturschweins”. Verlassen von seiner Frau, die mit einem Liebhaber nach Afrika durchgebrannt ist, regiert er seinen Zoo nach Gutsherrenart, schikaniert seine Untergebenen mit absurden Wochenparolen und richtet seine ganze Energie auf die Pflege ausländischer Gönnerinnen zur Finanzierung eines megalomanen Großprojekts, eines neuen Nachttierhauses.
Doch auch dieses Prachtexemplar des Alpha-Tiers, des “Machthabers”, wie ihn Canetti, der große Menschenzoologe, nicht genauer hätte zeichnen können, findet seinen Meister im unheimlichen Professor für Schmerzforschung, der in einem unzugänglichen Privatlabor Versuche mit “Augenkranken Tieren” anstellt, deren wahnsinnige Schreie allen durch Mark und Bein gehen. Das zweite Forschungsgebiet des Gelehrten sind die Leiden und Qualen seiner Mitmenschen, deren intime Kenntnis ihm zugleich unbegrenzte Macht zu verleihen scheint. Der dritte Mann im Rudel, der Revierchef des Vogelhauses, Karl-Walther Kadamecki, wird Papageno genannt, weil er Pfleger des legendären Schiefhals ist. In dem schroffen und schrulligen Eremiten glaubt Matthes den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, der ihr den Absprung aus einer quälenden Beziehung ermöglicht. Wie sich diese drei Platzhirsche mit weiblicher Beteiligung in Machtkämpfe und Intrigen verwickeln, ist ein Schauspiel, das jeden Affenstall in den Schatten stellt.
“Abwesende Tiere” spielt auf zwei Zeitebenen und bedient sich dazu verschiedener stilistischer Register. Während die Zookabalen, die etwa zu Beginn der achtziger Jahre angesiedelt sind, kolportagehaft um die umstrittene Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Papageno, den Familienklatsch der Direktorensippe und Matthes’ Beziehungsgeschichten kreisen und sich auf einen grotesken Höhepunkt zubewegen, erzählt Kluger parallel die temporeiche, hinreißende Liebesgeschichte zwischen Papageno und einer jüdischen Starfotografin im Berlin der dreißiger Jahre – mit allen Registern, die das Melodrama bietet. Diese Liebe und ihr tragisches Scheitern bilden das Zentrum des Romans, der immer wieder in leisen Andeutungen auf die Schoa anspielt: Schmerzforschung ist eine historische Wissenschaft.
Die aus Litauen stammende, sephardische Jüdin mit dem Künstlernamen Jali Klick wählt sich Kadamecki, damals ein unscheinbarer Reisebüroangestellter, in einem wilden Werben zu ihrem Deutschlehrer und Geliebten, dem sie im Gegenzug “Amorisch” beibringt. Tatsächlich öffnet die mondäne, orientalische Schönheit ihrem “K. W.” die Augen und zeigt ihm eine Welt jenseits des Männerheims, der billigen Kneipen und Vergnügungen. Das vor Glück weltvergesssene Paar macht den Zoo zum mythischen Ort der Liebe, spielt dort Verstecken und füttert seine Lieblingstiere. Wie diese große “Jahrhundertliebe” an kleinlichen Eifersüchteleien, an den bornierten Vorurteilen des politisch naiven Mannes zu zerbrechen droht, das ist großes Gefühlskino. Tränendrüsen sind ein physiologisches Phänomen, das der Schmerzforscher im Selbstversuch zu testen versucht. Auch die klügsten Leser bleiben Lebewesen und als solche unwillkürlichen Reiz-Reaktionsschemata unterworfen.
Jali will Eis” – wie ein Chorus durchzieht das verständliche Geplapper des Vogels Schiefhals den Roman. Die durch ihn verkörperte Erinnerung ist der Käfig, in dem alle Figuren stecken und dem sie vergeblich zu entfliehen versuchen. “Aber alle Menschen logen, wenn sie von ihrer Vergangenheit erzählten, Lügen war hier kein bewußter Prozeß, sondern Ausdruck einer Angst, die bis in die Höhlen der Vorzeit zurückreichte und von der Doro seit ihrer Kindheit geplagt wurde: der Angst vor Schmerzen und der Wiederholung von Schmerzen.” Die Schmerzen, die Menschen wie Tiere einander zufügen, sind nichts im Vergleich zu denen, die durch ihre Abwesenheit entstehen. Ein Leben lang versucht Papageno die Erzählungen zu vollenden, die Jali nach ihrem Verschwinden zurückließ.
Aus seiner Poetik der Erinnerung leitet sich das formale Prinzip der Wiederholung und Doppelung her, das den Roman in einem Anklang an den klassischen Strukturalismus durchzieht. Wie das ganze “Dritte Reich” im tyrannischen Machtsystem des wahnsinnigen Zoodirektors wiederkehrt, so durchleben alle Figuren die Schlüsselstationen ihres Lebens zweimal. Geschichte ereignet sich erst als Tragödie, dann als Farce. Als Weihnachtsstück organisiert die Chefsekretärin eine Bühnenadaptation des “Doppelten Lottchens”. Parodistisch umspielt der Roman so das Dogma der RAF-Generation, daß die Bundesrepublik eine Wiederaufnahme des Faschismus in anderem Gewand sei. Kluger ist Jahrgang 1948 und hat mit der “Verscheuchten” vor vier Jahren schon einen viel schmaleren, aber sehr gelungenen Roman geschrieben, der satirisch die Aporien deutscher Vergangenheitsbewältigung auseinanderlegt.
Vor allem anderen ist “Abwesende Tiere” aber eine anrührende, ja ergreifende und spannende Liebesgeschichte, deren Autor die professionelle Routine des Drehbuchautors nicht nur in den virtuosen Dialogen anzumerken ist. Eine subtile Kunst der Andeutung, des Fährten- und Fintenlegens webt ein Netz von Fragen: Wer brachte einst die beiden Vorgängerinnen des Direktors zu Tode? Was erforscht der Professor für Schmerzforschung wirklich? Wer schmiert im Zoo grausame, tierfeindliche Parolen an die Wände? Und vor allem: Woran scheiterte einst die Liebe zwischen Jali und Kadamecki?
Auch dieser Roman hat Schwächen: So opfert Kluger seiner Konstruktion eine realistische Figurenpsychologie. Viele Nebenfiguren, etwa der paranoide Vogelpfleger Jochen, sind reine Chargen. Aber auch wichtigere Charaktere weisen Brüche auf, die nur ihrer wechselnden Funktion im Handlungsgefüge geschuldet scheinen – etwa der mal diabolische, dann mitfühlend-gutherzige Schmerzforscher. Zudem leidet das Buch unter der Fülle seiner Nebenhandlungen. Mitunter erinnert es selbst an eine übervolle Voliere, in der allerlei buntes Getier durcheinanderquakt, -quasselt, -kreischt und -plappert. “Abwesende Tiere” ist das artenreichste Buch der Welt, dessen Qualitäten aber manchmal unter aufgeregtem Flügelschlagen verborgen bleiben.
Viele Jahre hat Kluger daran gearbeitet, und noch einmal so lange soll er benötigt haben, um einen Verlag zu finden. DuMont verdient Respekt für seinen Mut Respekt. “Abwesende Tiere” – ein Mammut, das viele Neuerscheinungen wie Kleinvieh erscheinen läßt – gehört zu den letzten Exemplaren einer in Deutschland vom Aussterben bedrohten Kreuzung aus Erzählkunst und epischer Fülle. Es sollte in keinem Privatzoo fehlen.”
Facts:
English title: n/a
Original title: Abwesende Tiere
Published: 2002